Regens nöthigte uns jeden Augenblick, in alle Häuser zu laufen, die wir antrafen, und allent- halben wurden wir empfangen, wie man Leute empfängt, nach welchen man sich herzlich gesehnt hat. Männer und Weiber brachten Stühle, zündeten ein großes Feuer an, und beklagten un- ser Schicksal, bey so bösem Wetter unterwegs zu seyn, so ungezwungen freundschaftlich, und mit so warmen Antheil, als wenn wir ihre Brüder oder Kinder gewesen wären. Ohne Zweifel, sagte ich bey mir selbst, haben diese Leute noch nicht Soldaten beherbergt. Ein Kind, das wir in einem Hause allein antrafen, und zu dem wir sagten, um es zu bewegen, daß es Feuer an- machte, wir wollten es bezahlen, antwortete uns, es brauche unsre Bezahlung nicht. Einige Frauenspersonen, die mich allein einen falschen Weg nehmen sahen, kamen im stärksten Regen aus ihren Häusern, um mir den rechten Weg zu zeigen. Oft rief ich mit jenem komischen Dichter aus, als ihm ein Bettler das Goldstück wieder zustellte, das er ihm aus Versehn gegeben hatte: O Tugend! wohin verkriechst du dich! -- -- Die Seelenruhe dieses Volks hat auch einen Ein- fluß auf ihr Aeußerliches. Wir erstaunten, viele der jungen Bäuerinnen auf diesen Gebirgen weit einnehmender zu finden, als die Mamsells von St. Moritzen und Martinach. --
Eben
Regens noͤthigte uns jeden Augenblick, in alle Haͤuſer zu laufen, die wir antrafen, und allent- halben wurden wir empfangen, wie man Leute empfaͤngt, nach welchen man ſich herzlich geſehnt hat. Maͤnner und Weiber brachten Stuͤhle, zuͤndeten ein großes Feuer an, und beklagten un- ſer Schickſal, bey ſo boͤſem Wetter unterwegs zu ſeyn, ſo ungezwungen freundſchaftlich, und mit ſo warmen Antheil, als wenn wir ihre Bruͤder oder Kinder geweſen waͤren. Ohne Zweifel, ſagte ich bey mir ſelbſt, haben dieſe Leute noch nicht Soldaten beherbergt. Ein Kind, das wir in einem Hauſe allein antrafen, und zu dem wir ſagten, um es zu bewegen, daß es Feuer an- machte, wir wollten es bezahlen, antwortete uns, es brauche unſre Bezahlung nicht. Einige Frauensperſonen, die mich allein einen falſchen Weg nehmen ſahen, kamen im ſtaͤrkſten Regen aus ihren Haͤuſern, um mir den rechten Weg zu zeigen. Oft rief ich mit jenem komiſchen Dichter aus, als ihm ein Bettler das Goldſtuͤck wieder zuſtellte, das er ihm aus Verſehn gegeben hatte: O Tugend! wohin verkriechſt du dich! — — Die Seelenruhe dieſes Volks hat auch einen Ein- fluß auf ihr Aeußerliches. Wir erſtaunten, viele der jungen Baͤuerinnen auf dieſen Gebirgen weit einnehmender zu finden, als die Mamſells von St. Moritzen und Martinach. —
Eben
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Regens noͤthigte uns jeden Augenblick, in alle
Haͤuſer zu laufen, die wir antrafen, und allent-
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empfaͤngt, nach welchen man ſich herzlich geſehnt
hat. Maͤnner und Weiber brachten Stuͤhle,
zuͤndeten ein großes Feuer an, und beklagten un-
ſer Schickſal, bey ſo boͤſem Wetter unterwegs zu
ſeyn, ſo ungezwungen freundſchaftlich, und mit
ſo warmen Antheil, als wenn wir ihre Bruͤder
oder Kinder geweſen waͤren. Ohne Zweifel,
ſagte ich bey mir ſelbſt, haben dieſe Leute noch
nicht Soldaten beherbergt. Ein Kind, das wir
in einem Hauſe allein antrafen, und zu dem wir
ſagten, um es zu bewegen, daß es Feuer an-
machte, wir wollten es bezahlen, antwortete uns,
es brauche unſre Bezahlung nicht. Einige
Frauensperſonen, die mich allein einen falſchen
Weg nehmen ſahen, kamen im ſtaͤrkſten Regen
aus ihren Haͤuſern, um mir den rechten Weg zu
zeigen. Oft rief ich mit jenem komiſchen Dichter
aus, als ihm ein Bettler das Goldſtuͤck wieder
zuſtellte, das er ihm aus Verſehn gegeben hatte:
O Tugend! wohin verkriechſt du dich! — —
Die Seelenruhe dieſes Volks hat auch einen Ein-
fluß auf ihr Aeußerliches. Wir erſtaunten, viele
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 492. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/208>, abgerufen am 27.11.2024.
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