Den größten aller Schneider nennt, Und ein vergoldet Marmor-Monument, An welchem Scheere, Zwirn und Nadel hangen Und Fingerhut und Bügeleisen prangen, Der späten Nachwelt dies bekennt? Wenn lebend mich mein Zeitgenosse Zu Stalle gleich dem edlen Rosse, Auf Stroh zu schlafen, von sich stößt, Und nackend gehn und hungern läßt?
*)
Die Einbildung erhält den Namen des lä- cherlichen Stolzes, wenn man sich einbildet, eine Vollkommenheit zu besitzen, wovon man gra- de das Gegentheil hat. Ein Bucklichter, der da meynt, seine schöne Figur bezaubre alle Herzen, oder ein Ungeschickter, der da glaubt, er sey un- ter die geschicktesten Männer zu zählen, sind un- ter die, welche am lächerlichen Stolze krank sind, zu rechnen.
Jede Art von Einbildung setzt bedaurenswür- dige Dummheit und Einseitigkeit des Verstandes voraus. Keine Bekanntschaft mit sich selbst, kei- ne richtige Kenntniß der Dinge, keine vernünfti- ge Schätzung des Werths derselben. Weil der
Ein-
*) Nothgedrungne Epistel des berühmten Schneiders Johannes Scheere an seinen großgünstigen Mäcen, in Bürgers Gedichten. 2. S. 237. f.
Cc 3
Den groͤßten aller Schneider nennt, Und ein vergoldet Marmor-Monument, An welchem Scheere, Zwirn und Nadel hangen Und Fingerhut und Buͤgeleiſen prangen, Der ſpaͤten Nachwelt dies bekennt? Wenn lebend mich mein Zeitgenoſſe Zu Stalle gleich dem edlen Roſſe, Auf Stroh zu ſchlafen, von ſich ſtoͤßt, Und nackend gehn und hungern laͤßt?
*)
Die Einbildung erhaͤlt den Namen des laͤ- cherlichen Stolzes, wenn man ſich einbildet, eine Vollkommenheit zu beſitzen, wovon man gra- de das Gegentheil hat. Ein Bucklichter, der da meynt, ſeine ſchoͤne Figur bezaubre alle Herzen, oder ein Ungeſchickter, der da glaubt, er ſey un- ter die geſchickteſten Maͤnner zu zaͤhlen, ſind un- ter die, welche am laͤcherlichen Stolze krank ſind, zu rechnen.
Jede Art von Einbildung ſetzt bedaurenswuͤr- dige Dummheit und Einſeitigkeit des Verſtandes voraus. Keine Bekanntſchaft mit ſich ſelbſt, kei- ne richtige Kenntniß der Dinge, keine vernuͤnfti- ge Schaͤtzung des Werths derſelben. Weil der
Ein-
*) Nothgedrungne Epiſtel des beruͤhmten Schneiders Johannes Scheere an ſeinen großguͤnſtigen Maͤcen, in Buͤrgers Gedichten. 2. S. 237. f.
Cc 3
<TEI><text><body><divn="1"><lgtype="poem"><pbfacs="#f0121"n="405"/><lb/><l>Den <hirendition="#b">groͤßten</hi> aller <hirendition="#b">Schneider</hi> nennt,</l><lb/><l>Und ein <hirendition="#b">vergoldet Marmor-Monument</hi>,</l><lb/><l>An welchem <hirendition="#b">Scheere, Zwirn</hi> und <hirendition="#b">Nadel</hi></l><lb/><l><hirendition="#et">hangen</hi></l><lb/><l>Und <hirendition="#b">Fingerhut</hi> und <hirendition="#b">Buͤgeleiſen prangen</hi>,</l><lb/><l>Der ſpaͤten Nachwelt dies bekennt?</l><lb/><l><hirendition="#et">Wenn lebend mich mein Zeitgenoſſe</hi></l><lb/><l>Zu Stalle gleich dem edlen Roſſe,</l><lb/><l>Auf Stroh zu ſchlafen, von ſich ſtoͤßt,</l><lb/><l>Und nackend gehn und hungern laͤßt?</l></lg><noteplace="foot"n="*)">Nothgedrungne Epiſtel des beruͤhmten Schneiders<lb/>
Johannes Scheere an ſeinen großguͤnſtigen Maͤcen,<lb/>
in Buͤrgers Gedichten. 2. S. 237. f.</note><lb/><p>Die Einbildung erhaͤlt den Namen des <hirendition="#b">laͤ-<lb/>
cherlichen Stolzes</hi>, wenn man ſich einbildet,<lb/>
eine Vollkommenheit zu beſitzen, wovon man gra-<lb/>
de das Gegentheil hat. Ein Bucklichter, der da<lb/>
meynt, ſeine ſchoͤne Figur bezaubre alle Herzen,<lb/>
oder ein Ungeſchickter, der da glaubt, er ſey un-<lb/>
ter die geſchickteſten Maͤnner zu zaͤhlen, ſind un-<lb/>
ter die, welche am laͤcherlichen Stolze krank ſind,<lb/>
zu rechnen.</p><lb/><p>Jede Art von Einbildung ſetzt bedaurenswuͤr-<lb/>
dige Dummheit und Einſeitigkeit des Verſtandes<lb/>
voraus. Keine Bekanntſchaft mit ſich ſelbſt, kei-<lb/>
ne richtige Kenntniß der Dinge, keine vernuͤnfti-<lb/>
ge Schaͤtzung des Werths derſelben. Weil der<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Cc 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">Ein-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[405/0121]
Den groͤßten aller Schneider nennt,
Und ein vergoldet Marmor-Monument,
An welchem Scheere, Zwirn und Nadel
hangen
Und Fingerhut und Buͤgeleiſen prangen,
Der ſpaͤten Nachwelt dies bekennt?
Wenn lebend mich mein Zeitgenoſſe
Zu Stalle gleich dem edlen Roſſe,
Auf Stroh zu ſchlafen, von ſich ſtoͤßt,
Und nackend gehn und hungern laͤßt?
*)
Die Einbildung erhaͤlt den Namen des laͤ-
cherlichen Stolzes, wenn man ſich einbildet,
eine Vollkommenheit zu beſitzen, wovon man gra-
de das Gegentheil hat. Ein Bucklichter, der da
meynt, ſeine ſchoͤne Figur bezaubre alle Herzen,
oder ein Ungeſchickter, der da glaubt, er ſey un-
ter die geſchickteſten Maͤnner zu zaͤhlen, ſind un-
ter die, welche am laͤcherlichen Stolze krank ſind,
zu rechnen.
Jede Art von Einbildung ſetzt bedaurenswuͤr-
dige Dummheit und Einſeitigkeit des Verſtandes
voraus. Keine Bekanntſchaft mit ſich ſelbſt, kei-
ne richtige Kenntniß der Dinge, keine vernuͤnfti-
ge Schaͤtzung des Werths derſelben. Weil der
Ein-
*) Nothgedrungne Epiſtel des beruͤhmten Schneiders
Johannes Scheere an ſeinen großguͤnſtigen Maͤcen,
in Buͤrgers Gedichten. 2. S. 237. f.
Cc 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/121>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.