Tissot, Zimmermann und andere Aerzte er- zählen schreckliche Beyspiele, von der fürchterlichen Rache, welche die Natur an dem Verstande de- rer nimmt, welche den Tempel ihrer Seele durch unmäßige und unnatürliche Wollust entweihen. Alle Verstandeskräfte, sagen die angeführten großen Männer, werden bey diesen Elenden zer- nichtet, das Gedächtniß verloren, die Begriffe verdunkelt; sie schweben in einer beständigen in- nerlichen Unruhe und in einer immerwährenden Gewissensangst: einige gerathen in die fallende Sucht, und durch diese in einen ganz thierischen Zustand. -- Noch immer schwebt mir das fürch- terliche Bild eines solchen Unglücklichen vor, der sich um seine Menschheit gebuhlt hatte, und den ich im vergangnen Jahr in dem vortreflich einge- richteten cellischen Jrrhause sah. Jedes Wort, das er aussprach, jede Mine und Gebehrde, die er machte, waren Verräther der Ursache seines Elends. Noch itzt suchte er das Laster, an wel- ches ihn seine Leidenschaft gefesselt hatte, auszu- üben; seine Seele war zerrüttet; er schien sich nicht eher genugthun zu können, als bis er auch seinen Leib zum Tode zerrüttet hätte.
Wie viele Beyspiele von solchen Personen, welche eine unglückliche oder überspannte Liebe des Verstandesgebrauchs beraubte, könnten die Annalen der Häuser, welche die Wohnungen der
Ver-
Tiſſot, Zimmermann und andere Aerzte er- zaͤhlen ſchreckliche Beyſpiele, von der fuͤrchterlichen Rache, welche die Natur an dem Verſtande de- rer nimmt, welche den Tempel ihrer Seele durch unmaͤßige und unnatuͤrliche Wolluſt entweihen. Alle Verſtandeskraͤfte, ſagen die angefuͤhrten großen Maͤnner, werden bey dieſen Elenden zer- nichtet, das Gedaͤchtniß verloren, die Begriffe verdunkelt; ſie ſchweben in einer beſtaͤndigen in- nerlichen Unruhe und in einer immerwaͤhrenden Gewiſſensangſt: einige gerathen in die fallende Sucht, und durch dieſe in einen ganz thieriſchen Zuſtand. — Noch immer ſchwebt mir das fuͤrch- terliche Bild eines ſolchen Ungluͤcklichen vor, der ſich um ſeine Menſchheit gebuhlt hatte, und den ich im vergangnen Jahr in dem vortreflich einge- richteten celliſchen Jrrhauſe ſah. Jedes Wort, das er ausſprach, jede Mine und Gebehrde, die er machte, waren Verraͤther der Urſache ſeines Elends. Noch itzt ſuchte er das Laſter, an wel- ches ihn ſeine Leidenſchaft gefeſſelt hatte, auszu- uͤben; ſeine Seele war zerruͤttet; er ſchien ſich nicht eher genugthun zu koͤnnen, als bis er auch ſeinen Leib zum Tode zerruͤttet haͤtte.
Wie viele Beyſpiele von ſolchen Perſonen, welche eine ungluͤckliche oder uͤberſpannte Liebe des Verſtandesgebrauchs beraubte, koͤnnten die Annalen der Haͤuſer, welche die Wohnungen der
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Tiſſot, Zimmermann und andere Aerzte er-
zaͤhlen ſchreckliche Beyſpiele, von der fuͤrchterlichen
Rache, welche die Natur an dem Verſtande de-
rer nimmt, welche den Tempel ihrer Seele durch
unmaͤßige und unnatuͤrliche Wolluſt entweihen.
Alle Verſtandeskraͤfte, ſagen die angefuͤhrten
großen Maͤnner, werden bey dieſen Elenden zer-
nichtet, das Gedaͤchtniß verloren, die Begriffe
verdunkelt; ſie ſchweben in einer beſtaͤndigen in-
nerlichen Unruhe und in einer immerwaͤhrenden
Gewiſſensangſt: einige gerathen in die fallende
Sucht, und durch dieſe in einen ganz thieriſchen
Zuſtand. — Noch immer ſchwebt mir das fuͤrch-
terliche Bild eines ſolchen Ungluͤcklichen vor, der
ſich um ſeine Menſchheit gebuhlt hatte, und den
ich im vergangnen Jahr in dem vortreflich einge-
richteten celliſchen Jrrhauſe ſah. Jedes Wort,
das er ausſprach, jede Mine und Gebehrde, die
er machte, waren Verraͤther der Urſache ſeines
Elends. Noch itzt ſuchte er das Laſter, an wel-
ches ihn ſeine Leidenſchaft gefeſſelt hatte, auszu-
uͤben; ſeine Seele war zerruͤttet; er ſchien ſich
nicht eher genugthun zu koͤnnen, als bis er auch
ſeinen Leib zum Tode zerruͤttet haͤtte.
Wie viele Beyſpiele von ſolchen Perſonen,
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/210>, abgerufen am 26.11.2024.
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