Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

Tissot, Zimmermann und andere Aerzte er-
zählen schreckliche Beyspiele, von der fürchterlichen
Rache, welche die Natur an dem Verstande de-
rer nimmt, welche den Tempel ihrer Seele durch
unmäßige und unnatürliche Wollust entweihen.
Alle Verstandeskräfte, sagen die angeführten
großen Männer, werden bey diesen Elenden zer-
nichtet, das Gedächtniß verloren, die Begriffe
verdunkelt; sie schweben in einer beständigen in-
nerlichen Unruhe und in einer immerwährenden
Gewissensangst: einige gerathen in die fallende
Sucht, und durch diese in einen ganz thierischen
Zustand. -- Noch immer schwebt mir das fürch-
terliche Bild eines solchen Unglücklichen vor, der
sich um seine Menschheit gebuhlt hatte, und den
ich im vergangnen Jahr in dem vortreflich einge-
richteten cellischen Jrrhause sah. Jedes Wort,
das er aussprach, jede Mine und Gebehrde, die
er machte, waren Verräther der Ursache seines
Elends. Noch itzt suchte er das Laster, an wel-
ches ihn seine Leidenschaft gefesselt hatte, auszu-
üben; seine Seele war zerrüttet; er schien sich
nicht eher genugthun zu können, als bis er auch
seinen Leib zum Tode zerrüttet hätte.

Wie viele Beyspiele von solchen Personen,
welche eine unglückliche oder überspannte Liebe
des Verstandesgebrauchs beraubte, könnten die
Annalen der Häuser, welche die Wohnungen der

Ver-

Tiſſot, Zimmermann und andere Aerzte er-
zaͤhlen ſchreckliche Beyſpiele, von der fuͤrchterlichen
Rache, welche die Natur an dem Verſtande de-
rer nimmt, welche den Tempel ihrer Seele durch
unmaͤßige und unnatuͤrliche Wolluſt entweihen.
Alle Verſtandeskraͤfte, ſagen die angefuͤhrten
großen Maͤnner, werden bey dieſen Elenden zer-
nichtet, das Gedaͤchtniß verloren, die Begriffe
verdunkelt; ſie ſchweben in einer beſtaͤndigen in-
nerlichen Unruhe und in einer immerwaͤhrenden
Gewiſſensangſt: einige gerathen in die fallende
Sucht, und durch dieſe in einen ganz thieriſchen
Zuſtand. — Noch immer ſchwebt mir das fuͤrch-
terliche Bild eines ſolchen Ungluͤcklichen vor, der
ſich um ſeine Menſchheit gebuhlt hatte, und den
ich im vergangnen Jahr in dem vortreflich einge-
richteten celliſchen Jrrhauſe ſah. Jedes Wort,
das er ausſprach, jede Mine und Gebehrde, die
er machte, waren Verraͤther der Urſache ſeines
Elends. Noch itzt ſuchte er das Laſter, an wel-
ches ihn ſeine Leidenſchaft gefeſſelt hatte, auszu-
uͤben; ſeine Seele war zerruͤttet; er ſchien ſich
nicht eher genugthun zu koͤnnen, als bis er auch
ſeinen Leib zum Tode zerruͤttet haͤtte.

Wie viele Beyſpiele von ſolchen Perſonen,
welche eine ungluͤckliche oder uͤberſpannte Liebe
des Verſtandesgebrauchs beraubte, koͤnnten die
Annalen der Haͤuſer, welche die Wohnungen der

Ver-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0210" n="186"/>
          <p>Ti&#x017F;&#x017F;ot, Zimmermann und andere Aerzte er-<lb/>
za&#x0364;hlen &#x017F;chreckliche Bey&#x017F;piele, von der fu&#x0364;rchterlichen<lb/>
Rache, welche die Natur an dem Ver&#x017F;tande de-<lb/>
rer nimmt, welche den Tempel ihrer Seele durch<lb/>
unma&#x0364;ßige und unnatu&#x0364;rliche <hi rendition="#b">Wollu&#x017F;t</hi> entweihen.<lb/>
Alle Ver&#x017F;tandeskra&#x0364;fte, &#x017F;agen die angefu&#x0364;hrten<lb/>
großen Ma&#x0364;nner, werden bey die&#x017F;en Elenden zer-<lb/>
nichtet, das Geda&#x0364;chtniß verloren, die Begriffe<lb/>
verdunkelt; &#x017F;ie &#x017F;chweben in einer be&#x017F;ta&#x0364;ndigen in-<lb/>
nerlichen Unruhe und in einer immerwa&#x0364;hrenden<lb/>
Gewi&#x017F;&#x017F;ensang&#x017F;t: einige gerathen in die fallende<lb/>
Sucht, und durch die&#x017F;e in einen ganz thieri&#x017F;chen<lb/>
Zu&#x017F;tand. &#x2014; Noch immer &#x017F;chwebt mir das fu&#x0364;rch-<lb/>
terliche Bild eines &#x017F;olchen Unglu&#x0364;cklichen vor, der<lb/>
&#x017F;ich um &#x017F;eine Men&#x017F;chheit gebuhlt hatte, und den<lb/>
ich im vergangnen Jahr in dem vortreflich einge-<lb/>
richteten celli&#x017F;chen Jrrhau&#x017F;e &#x017F;ah. Jedes Wort,<lb/>
das er aus&#x017F;prach, jede Mine und Gebehrde, die<lb/>
er machte, waren Verra&#x0364;ther der Ur&#x017F;ache &#x017F;eines<lb/>
Elends. Noch itzt &#x017F;uchte er das La&#x017F;ter, an wel-<lb/>
ches ihn &#x017F;eine Leiden&#x017F;chaft gefe&#x017F;&#x017F;elt hatte, auszu-<lb/>
u&#x0364;ben; &#x017F;eine Seele war zerru&#x0364;ttet; er &#x017F;chien &#x017F;ich<lb/>
nicht eher genugthun zu ko&#x0364;nnen, als bis er auch<lb/>
&#x017F;einen Leib zum Tode zerru&#x0364;ttet ha&#x0364;tte.</p><lb/>
          <p>Wie viele Bey&#x017F;piele von &#x017F;olchen Per&#x017F;onen,<lb/>
welche eine unglu&#x0364;ckliche oder u&#x0364;ber&#x017F;pannte <hi rendition="#b">Liebe</hi><lb/>
des Ver&#x017F;tandesgebrauchs beraubte, ko&#x0364;nnten die<lb/>
Annalen der Ha&#x0364;u&#x017F;er, welche die Wohnungen der<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Ver-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[186/0210] Tiſſot, Zimmermann und andere Aerzte er- zaͤhlen ſchreckliche Beyſpiele, von der fuͤrchterlichen Rache, welche die Natur an dem Verſtande de- rer nimmt, welche den Tempel ihrer Seele durch unmaͤßige und unnatuͤrliche Wolluſt entweihen. Alle Verſtandeskraͤfte, ſagen die angefuͤhrten großen Maͤnner, werden bey dieſen Elenden zer- nichtet, das Gedaͤchtniß verloren, die Begriffe verdunkelt; ſie ſchweben in einer beſtaͤndigen in- nerlichen Unruhe und in einer immerwaͤhrenden Gewiſſensangſt: einige gerathen in die fallende Sucht, und durch dieſe in einen ganz thieriſchen Zuſtand. — Noch immer ſchwebt mir das fuͤrch- terliche Bild eines ſolchen Ungluͤcklichen vor, der ſich um ſeine Menſchheit gebuhlt hatte, und den ich im vergangnen Jahr in dem vortreflich einge- richteten celliſchen Jrrhauſe ſah. Jedes Wort, das er ausſprach, jede Mine und Gebehrde, die er machte, waren Verraͤther der Urſache ſeines Elends. Noch itzt ſuchte er das Laſter, an wel- ches ihn ſeine Leidenſchaft gefeſſelt hatte, auszu- uͤben; ſeine Seele war zerruͤttet; er ſchien ſich nicht eher genugthun zu koͤnnen, als bis er auch ſeinen Leib zum Tode zerruͤttet haͤtte. Wie viele Beyſpiele von ſolchen Perſonen, welche eine ungluͤckliche oder uͤberſpannte Liebe des Verſtandesgebrauchs beraubte, koͤnnten die Annalen der Haͤuſer, welche die Wohnungen der Ver-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/210
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/210>, abgerufen am 26.11.2024.