Nein. Hast du dich gegen Andere vergan- gen? Ein Ja. Aber worin? -- das konnte man niemals von ihr erfahren. An einem Mon- tag entschloß sich endlich das unglückliche Mäd- chen, das Unser Vater zu beten. Mit dem stärk- sten Nachdruck erhöhte es seine Stimme, als es auf die Bitte kam: Und führe uns nicht in Ver- suchung, sondern erlöse uns von dem Uebel. -- Eine Weile hernach schrie es ganz jämmerlich: Ach! die Sünde wider den Heiligen Geist.
Der traurigste und niederschlagendeste Anblick in der Natur ist der Melancholische; der traurigste und erschrecklichste der Tolle, Rasende, Wüthige. Fürchterlich rollt er sei- ne vom Blute gerötheten Augen: Geifer dringt aus seinem Munde hervor, und der gewaltige Schlag seiner Adern macht sich an Schläfen und Händen dem Auge bemerkbar. Ketten und Ban- den sind zu schwach, seine Wuth zu bezähmen: er wüthet und tobt gegen Freunde und Feinde und gegen sich selbst.
Van Swieten erzählt von einem Rasenden, der in der heftigsten Kälte mehrere Wochen lang nackend auf dem Steinpflaster auf bloßem Strohe lag, acht ganzer Tage lang nicht einen Bissen zu sich nahm, und dann zuweilen wieder alles gie- rig verschlang; der sogar, ohnerachtet die besten Gerichte vor ihm standen, seinen eignen Unrath
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Nein. Haſt du dich gegen Andere vergan- gen? Ein Ja. Aber worin? — das konnte man niemals von ihr erfahren. An einem Mon- tag entſchloß ſich endlich das ungluͤckliche Maͤd- chen, das Unſer Vater zu beten. Mit dem ſtaͤrk- ſten Nachdruck erhoͤhte es ſeine Stimme, als es auf die Bitte kam: Und fuͤhre uns nicht in Ver- ſuchung, ſondern erloͤſe uns von dem Uebel. — Eine Weile hernach ſchrie es ganz jaͤmmerlich: Ach! die Suͤnde wider den Heiligen Geiſt.
Der traurigſte und niederſchlagendeſte Anblick in der Natur iſt der Melancholiſche; der traurigſte und erſchrecklichſte der Tolle, Raſende, Wuͤthige. Fuͤrchterlich rollt er ſei- ne vom Blute geroͤtheten Augen: Geifer dringt aus ſeinem Munde hervor, und der gewaltige Schlag ſeiner Adern macht ſich an Schlaͤfen und Haͤnden dem Auge bemerkbar. Ketten und Ban- den ſind zu ſchwach, ſeine Wuth zu bezaͤhmen: er wuͤthet und tobt gegen Freunde und Feinde und gegen ſich ſelbſt.
Van Swieten erzaͤhlt von einem Raſenden, der in der heftigſten Kaͤlte mehrere Wochen lang nackend auf dem Steinpflaſter auf bloßem Strohe lag, acht ganzer Tage lang nicht einen Biſſen zu ſich nahm, und dann zuweilen wieder alles gie- rig verſchlang; der ſogar, ohnerachtet die beſten Gerichte vor ihm ſtanden, ſeinen eignen Unrath
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Nein. Haſt du dich gegen Andere vergan-
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man niemals von ihr erfahren. An einem Mon-
tag entſchloß ſich endlich das ungluͤckliche Maͤd-
chen, das Unſer Vater zu beten. Mit dem ſtaͤrk-
ſten Nachdruck erhoͤhte es ſeine Stimme, als es
auf die Bitte kam: Und fuͤhre uns nicht in Ver-
ſuchung, ſondern erloͤſe uns von dem Uebel. —
Eine Weile hernach ſchrie es ganz jaͤmmerlich:
Ach! die Suͤnde wider den Heiligen Geiſt.
Der traurigſte und niederſchlagendeſte
Anblick in der Natur iſt der Melancholiſche;
der traurigſte und erſchrecklichſte der Tolle,
Raſende, Wuͤthige. Fuͤrchterlich rollt er ſei-
ne vom Blute geroͤtheten Augen: Geifer dringt
aus ſeinem Munde hervor, und der gewaltige
Schlag ſeiner Adern macht ſich an Schlaͤfen und
Haͤnden dem Auge bemerkbar. Ketten und Ban-
den ſind zu ſchwach, ſeine Wuth zu bezaͤhmen:
er wuͤthet und tobt gegen Freunde und Feinde
und gegen ſich ſelbſt.
Van Swieten erzaͤhlt von einem Raſenden,
der in der heftigſten Kaͤlte mehrere Wochen lang
nackend auf dem Steinpflaſter auf bloßem Strohe
lag, acht ganzer Tage lang nicht einen Biſſen zu
ſich nahm, und dann zuweilen wieder alles gie-
rig verſchlang; der ſogar, ohnerachtet die beſten
Gerichte vor ihm ſtanden, ſeinen eignen Unrath
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/197>, abgerufen am 16.02.2025.
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