Hoheit, wenn man in dem obern Theil des Hau- ses wohnt, die Bewohnung der untern Theile dessel- ben wird als ein Zeichen der Niedrigkeit angese- hen. Darum war es eine vorzügliche Sorge der nach Frankreich geschickten siamesischen Gesandten, daß die Briefe ihres Königs im Schiffe über ih- rem Haupte lagen, und ein gewaltiger Schreck für sie, da sie vernahmen, daß sie in Frankreich über denselben wohnten; weil sie dadurch ein Ver- brechen der beleidigten Majestät begangen zu ha- ben glaubten.
Alle Begriffe von Gegenständen, welche Na- tionen sich bilden, werden nach den Dingen ge- formt, welche sie zunächst umgeben, und tragen das deutliche Gepräge ihrer sehr materiellen Ent- stehung. Dies zeigt sich vorzüglich in den Vor- stellungen von den Göttern und dem Verhältniß, in welchem sie gegen dieselben zu stehen glauben. Alle ihre Götter sind nichts weiter, als nach Menschen geformte Götzen, mit allen menschli- chen Launen, Neigungen und Begierden, und so wie sie gegen ihres Gleichen nur so lange gutgesinnt und freundlich sind, als diese mit ihrem Willen übereinstimmen, so sind sie es auch nicht länger gegen ihre Götzen. Denn, wenn das nicht in Er- füllung geht, was ihre träge Dummheit von den Göttern erwartet, so mißhandeln sie dieselben auf die härteste und schimpflichste Weise.
Wenn
Hoheit, wenn man in dem obern Theil des Hau- ſes wohnt, die Bewohnung der untern Theile deſſel- ben wird als ein Zeichen der Niedrigkeit angeſe- hen. Darum war es eine vorzuͤgliche Sorge der nach Frankreich geſchickten ſiameſiſchen Geſandten, daß die Briefe ihres Koͤnigs im Schiffe uͤber ih- rem Haupte lagen, und ein gewaltiger Schreck fuͤr ſie, da ſie vernahmen, daß ſie in Frankreich uͤber denſelben wohnten; weil ſie dadurch ein Ver- brechen der beleidigten Majeſtaͤt begangen zu ha- ben glaubten.
Alle Begriffe von Gegenſtaͤnden, welche Na- tionen ſich bilden, werden nach den Dingen ge- formt, welche ſie zunaͤchſt umgeben, und tragen das deutliche Gepraͤge ihrer ſehr materiellen Ent- ſtehung. Dies zeigt ſich vorzuͤglich in den Vor- ſtellungen von den Goͤttern und dem Verhaͤltniß, in welchem ſie gegen dieſelben zu ſtehen glauben. Alle ihre Goͤtter ſind nichts weiter, als nach Menſchen geformte Goͤtzen, mit allen menſchli- chen Launen, Neigungen und Begierden, und ſo wie ſie gegen ihres Gleichen nur ſo lange gutgeſinnt und freundlich ſind, als dieſe mit ihrem Willen uͤbereinſtimmen, ſo ſind ſie es auch nicht laͤnger gegen ihre Goͤtzen. Denn, wenn das nicht in Er- fuͤllung geht, was ihre traͤge Dummheit von den Goͤttern erwartet, ſo mißhandeln ſie dieſelben auf die haͤrteſte und ſchimpflichſte Weiſe.
Wenn
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0179"n="155"/>
Hoheit, wenn man in dem obern Theil des Hau-<lb/>ſes wohnt, die Bewohnung der untern Theile deſſel-<lb/>
ben wird als ein Zeichen der Niedrigkeit angeſe-<lb/>
hen. Darum war es eine vorzuͤgliche Sorge der<lb/>
nach Frankreich geſchickten ſiameſiſchen Geſandten,<lb/>
daß die Briefe ihres Koͤnigs im Schiffe uͤber ih-<lb/>
rem Haupte lagen, und ein gewaltiger Schreck<lb/>
fuͤr ſie, da ſie vernahmen, daß ſie in Frankreich<lb/>
uͤber denſelben wohnten; weil ſie dadurch ein Ver-<lb/>
brechen der beleidigten Majeſtaͤt begangen zu ha-<lb/>
ben glaubten.</p><lb/><p>Alle Begriffe von Gegenſtaͤnden, welche Na-<lb/>
tionen ſich bilden, werden nach den Dingen ge-<lb/>
formt, welche ſie zunaͤchſt umgeben, und tragen<lb/>
das deutliche Gepraͤge ihrer ſehr materiellen Ent-<lb/>ſtehung. Dies zeigt ſich vorzuͤglich in den Vor-<lb/>ſtellungen von den Goͤttern und dem Verhaͤltniß,<lb/>
in welchem ſie gegen dieſelben zu ſtehen glauben.<lb/>
Alle ihre Goͤtter ſind nichts weiter, als nach<lb/>
Menſchen geformte Goͤtzen, mit allen menſchli-<lb/>
chen Launen, Neigungen und Begierden, und ſo<lb/>
wie ſie gegen ihres Gleichen nur ſo lange gutgeſinnt<lb/>
und freundlich ſind, als dieſe mit ihrem Willen<lb/>
uͤbereinſtimmen, ſo ſind ſie es auch nicht laͤnger<lb/>
gegen ihre Goͤtzen. Denn, wenn das nicht in Er-<lb/>
fuͤllung geht, was ihre traͤge Dummheit von den<lb/>
Goͤttern erwartet, ſo mißhandeln ſie dieſelben auf<lb/>
die haͤrteſte und ſchimpflichſte Weiſe.</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Wenn</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[155/0179]
Hoheit, wenn man in dem obern Theil des Hau-
ſes wohnt, die Bewohnung der untern Theile deſſel-
ben wird als ein Zeichen der Niedrigkeit angeſe-
hen. Darum war es eine vorzuͤgliche Sorge der
nach Frankreich geſchickten ſiameſiſchen Geſandten,
daß die Briefe ihres Koͤnigs im Schiffe uͤber ih-
rem Haupte lagen, und ein gewaltiger Schreck
fuͤr ſie, da ſie vernahmen, daß ſie in Frankreich
uͤber denſelben wohnten; weil ſie dadurch ein Ver-
brechen der beleidigten Majeſtaͤt begangen zu ha-
ben glaubten.
Alle Begriffe von Gegenſtaͤnden, welche Na-
tionen ſich bilden, werden nach den Dingen ge-
formt, welche ſie zunaͤchſt umgeben, und tragen
das deutliche Gepraͤge ihrer ſehr materiellen Ent-
ſtehung. Dies zeigt ſich vorzuͤglich in den Vor-
ſtellungen von den Goͤttern und dem Verhaͤltniß,
in welchem ſie gegen dieſelben zu ſtehen glauben.
Alle ihre Goͤtter ſind nichts weiter, als nach
Menſchen geformte Goͤtzen, mit allen menſchli-
chen Launen, Neigungen und Begierden, und ſo
wie ſie gegen ihres Gleichen nur ſo lange gutgeſinnt
und freundlich ſind, als dieſe mit ihrem Willen
uͤbereinſtimmen, ſo ſind ſie es auch nicht laͤnger
gegen ihre Goͤtzen. Denn, wenn das nicht in Er-
fuͤllung geht, was ihre traͤge Dummheit von den
Goͤttern erwartet, ſo mißhandeln ſie dieſelben auf
die haͤrteſte und ſchimpflichſte Weiſe.
Wenn
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/179>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.