Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

weißes Gewand floß zu ihren Füßen herab, ganz
einsam und traurig stand sie, und heftete Blicke
auf ihn, die ihm das Herz durchbohrten. Ohne
sich einen Augenblick zu besinnen, stürzte er sich
den Fluß hinab, arbeitete sich ans andre Ufer
hinüber, und eilte, seiner Psyche zu Füßen sich zu
werfen. Aber sie entschlüpfte ihm, wie ein Schat-
ten, er strebte ihr mit ausgebreiteten Armen nach,
aber vergebens! Es war ihm unmöglich, den
kleinen Zwischenraum zurückzulegen, der ihn von
ihr trennte. Noch immer heftete sie ihre Blicke
auf ihn; ernste Traurigkeit sprach aus ihrem Ge-
sicht und ihre rechte Hand wies in die Ferne, wo
er die goldnen Thürme und die heiligen Hayne des
delphischen Tempels ganz deutlich zu unterscheiden
glaubte. Thränen liefen bey diesem Anblick über
seine Wangen herab. Er streckte seine Arme fle-
hend und von unaussprechlichen Empfindungen be-
klemmt, nach der geliebten Psyche aus. Aber sie
floh eilends von ihm weg, einer Bildsäule der Tu-
gend zu, welche unter den Trümmern eines ver-
fallnen Tempels, einsam und unversehrt in ma-
jestätischer Ruhe auf einem unbeweglichen Cubus
stand. Psyche umarmte diese Bildsäule, warf
noch einen tiefsinnigen Blick auf ihn und ver-
schwand. Verzweifelnd wollte er ihr nacheilen,
als er sich plötzlich in einem tiefen Schlamme ver-
senket sah; und die Bestrebung, die er anwen-

dete,

weißes Gewand floß zu ihren Fuͤßen herab, ganz
einſam und traurig ſtand ſie, und heftete Blicke
auf ihn, die ihm das Herz durchbohrten. Ohne
ſich einen Augenblick zu beſinnen, ſtuͤrzte er ſich
den Fluß hinab, arbeitete ſich ans andre Ufer
hinuͤber, und eilte, ſeiner Pſyche zu Fuͤßen ſich zu
werfen. Aber ſie entſchluͤpfte ihm, wie ein Schat-
ten, er ſtrebte ihr mit ausgebreiteten Armen nach,
aber vergebens! Es war ihm unmoͤglich, den
kleinen Zwiſchenraum zuruͤckzulegen, der ihn von
ihr trennte. Noch immer heftete ſie ihre Blicke
auf ihn; ernſte Traurigkeit ſprach aus ihrem Ge-
ſicht und ihre rechte Hand wies in die Ferne, wo
er die goldnen Thuͤrme und die heiligen Hayne des
delphiſchen Tempels ganz deutlich zu unterſcheiden
glaubte. Thraͤnen liefen bey dieſem Anblick uͤber
ſeine Wangen herab. Er ſtreckte ſeine Arme fle-
hend und von unausſprechlichen Empfindungen be-
klemmt, nach der geliebten Pſyche aus. Aber ſie
floh eilends von ihm weg, einer Bildſaͤule der Tu-
gend zu, welche unter den Truͤmmern eines ver-
fallnen Tempels, einſam und unverſehrt in ma-
jeſtaͤtiſcher Ruhe auf einem unbeweglichen Cubus
ſtand. Pſyche umarmte dieſe Bildſaͤule, warf
noch einen tiefſinnigen Blick auf ihn und ver-
ſchwand. Verzweifelnd wollte er ihr nacheilen,
als er ſich ploͤtzlich in einem tiefen Schlamme ver-
ſenket ſah; und die Beſtrebung, die er anwen-

dete,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0103" n="79"/>
weißes Gewand floß zu ihren Fu&#x0364;ßen herab, ganz<lb/>
ein&#x017F;am und traurig &#x017F;tand &#x017F;ie, und heftete Blicke<lb/>
auf ihn, die ihm das Herz durchbohrten. Ohne<lb/>
&#x017F;ich einen Augenblick zu be&#x017F;innen, &#x017F;tu&#x0364;rzte er &#x017F;ich<lb/>
den Fluß hinab, arbeitete &#x017F;ich ans andre Ufer<lb/>
hinu&#x0364;ber, und eilte, &#x017F;einer P&#x017F;yche zu Fu&#x0364;ßen &#x017F;ich zu<lb/>
werfen. Aber &#x017F;ie ent&#x017F;chlu&#x0364;pfte ihm, wie ein Schat-<lb/>
ten, er &#x017F;trebte ihr mit ausgebreiteten Armen nach,<lb/>
aber vergebens! Es war ihm unmo&#x0364;glich, den<lb/>
kleinen Zwi&#x017F;chenraum zuru&#x0364;ckzulegen, der ihn von<lb/>
ihr trennte. Noch immer heftete &#x017F;ie ihre Blicke<lb/>
auf ihn; ern&#x017F;te Traurigkeit &#x017F;prach aus ihrem Ge-<lb/>
&#x017F;icht und ihre rechte Hand wies in die Ferne, wo<lb/>
er die goldnen Thu&#x0364;rme und die heiligen Hayne des<lb/>
delphi&#x017F;chen Tempels ganz deutlich zu unter&#x017F;cheiden<lb/>
glaubte. Thra&#x0364;nen liefen bey die&#x017F;em Anblick u&#x0364;ber<lb/>
&#x017F;eine Wangen herab. Er &#x017F;treckte &#x017F;eine Arme fle-<lb/>
hend und von unaus&#x017F;prechlichen Empfindungen be-<lb/>
klemmt, nach der geliebten P&#x017F;yche aus. Aber &#x017F;ie<lb/>
floh eilends von ihm weg, einer Bild&#x017F;a&#x0364;ule der Tu-<lb/>
gend zu, welche unter den Tru&#x0364;mmern eines ver-<lb/>
fallnen Tempels, ein&#x017F;am und unver&#x017F;ehrt in ma-<lb/>
je&#x017F;ta&#x0364;ti&#x017F;cher Ruhe auf einem unbeweglichen Cubus<lb/>
&#x017F;tand. P&#x017F;yche umarmte die&#x017F;e Bild&#x017F;a&#x0364;ule, warf<lb/>
noch einen tief&#x017F;innigen Blick auf ihn und ver-<lb/>
&#x017F;chwand. Verzweifelnd wollte er ihr nacheilen,<lb/>
als er &#x017F;ich plo&#x0364;tzlich in einem tiefen Schlamme ver-<lb/>
&#x017F;enket &#x017F;ah; und die Be&#x017F;trebung, die er anwen-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">dete,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[79/0103] weißes Gewand floß zu ihren Fuͤßen herab, ganz einſam und traurig ſtand ſie, und heftete Blicke auf ihn, die ihm das Herz durchbohrten. Ohne ſich einen Augenblick zu beſinnen, ſtuͤrzte er ſich den Fluß hinab, arbeitete ſich ans andre Ufer hinuͤber, und eilte, ſeiner Pſyche zu Fuͤßen ſich zu werfen. Aber ſie entſchluͤpfte ihm, wie ein Schat- ten, er ſtrebte ihr mit ausgebreiteten Armen nach, aber vergebens! Es war ihm unmoͤglich, den kleinen Zwiſchenraum zuruͤckzulegen, der ihn von ihr trennte. Noch immer heftete ſie ihre Blicke auf ihn; ernſte Traurigkeit ſprach aus ihrem Ge- ſicht und ihre rechte Hand wies in die Ferne, wo er die goldnen Thuͤrme und die heiligen Hayne des delphiſchen Tempels ganz deutlich zu unterſcheiden glaubte. Thraͤnen liefen bey dieſem Anblick uͤber ſeine Wangen herab. Er ſtreckte ſeine Arme fle- hend und von unausſprechlichen Empfindungen be- klemmt, nach der geliebten Pſyche aus. Aber ſie floh eilends von ihm weg, einer Bildſaͤule der Tu- gend zu, welche unter den Truͤmmern eines ver- fallnen Tempels, einſam und unverſehrt in ma- jeſtaͤtiſcher Ruhe auf einem unbeweglichen Cubus ſtand. Pſyche umarmte dieſe Bildſaͤule, warf noch einen tiefſinnigen Blick auf ihn und ver- ſchwand. Verzweifelnd wollte er ihr nacheilen, als er ſich ploͤtzlich in einem tiefen Schlamme ver- ſenket ſah; und die Beſtrebung, die er anwen- dete,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/103
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/103>, abgerufen am 22.11.2024.