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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Ideen zu einer Kriminalpsychologie. Halle, 1792.

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men, welches sein sich selbst nicht kennen-
der Bruder zu führen nicht Erfahrung und
Bildung genug hat. -- Kennt wol der grosse
Haufe alle Motiven seiner Handlungen? --
Versteht er die Kunst, dieselben aus ihren
innern Gründen zu erklären und zu beurthei-
len? Wer lehrt den Mann, der im Schweiss
seines Angesichts sein Brod isst, die Tiefe sei-
nes Herzens ergründen? Wer lehrt ihn die
Handlungen des Menschen, nicht nach ihrer
äussern Form, sondern nach ihrem Geiste zu
würdigen? Wer lehrt ihn endlich, die klei-
nen, oft auch dem scharfen Auge des geübten
Menschenkenners kaum bemerkbaren Ursa-
chen und Umstände entdecken, welche vor-
nehmlich die Form der Handlung*) bestimm-

ten
*) Die peinliche Halsgerichtsordnung sagt im 47. Ar-
tikel, nachdem sie dem Richter zur Pflicht gemacht
hat, den Angeschuldigten zur Angabe von Ent-
schuldigungsgründen zu veranlassen, sehr wahr:
"Vnnd solcher erinnerung ist darumb not, dass
mancher auss eynfalt oder schrecken, nit fürzu-
schlagen weiss, ob er gleich vnschuldig ist, wie er
sich des entschuldigen und aussfüren soll."

men, welches ſein ſich ſelbſt nicht kennen-
der Bruder zu führen nicht Erfahrung und
Bildung genug hat. — Kennt wol der groſse
Haufe alle Motiven ſeiner Handlungen? —
Verſteht er die Kunſt, dieſelben aus ihren
innern Gründen zu erklären und zu beurthei-
len? Wer lehrt den Mann, der im Schweiſs
ſeines Angeſichts ſein Brod iſst, die Tiefe ſei-
nes Herzens ergründen? Wer lehrt ihn die
Handlungen des Menſchen, nicht nach ihrer
äuſsern Form, ſondern nach ihrem Geiſte zu
würdigen? Wer lehrt ihn endlich, die klei-
nen, oft auch dem ſcharfen Auge des geübten
Menſchenkenners kaum bemerkbaren Urſa-
chen und Umſtände entdecken, welche vor-
nehmlich die Form der Handlung*) beſtimm-

ten
*) Die peinliche Halsgerichtsordnung ſagt im 47. Ar-
tikel, nachdem ſie dem Richter zur Pflicht gemacht
hat, den Angeſchuldigten zur Angabe von Ent-
ſchuldigungsgründen zu veranlaſſen, ſehr wahr:
„Vnnd ſolcher erinnerung iſt darumb not, daſs
mancher auſs eynfalt oder ſchrecken, nit fürzu-
ſchlagen weiſs, ob er gleich vnſchuldig iſt, wie er
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[48/0050] men, welches ſein ſich ſelbſt nicht kennen- der Bruder zu führen nicht Erfahrung und Bildung genug hat. — Kennt wol der groſse Haufe alle Motiven ſeiner Handlungen? — Verſteht er die Kunſt, dieſelben aus ihren innern Gründen zu erklären und zu beurthei- len? Wer lehrt den Mann, der im Schweiſs ſeines Angeſichts ſein Brod iſst, die Tiefe ſei- nes Herzens ergründen? Wer lehrt ihn die Handlungen des Menſchen, nicht nach ihrer äuſsern Form, ſondern nach ihrem Geiſte zu würdigen? Wer lehrt ihn endlich, die klei- nen, oft auch dem ſcharfen Auge des geübten Menſchenkenners kaum bemerkbaren Urſa- chen und Umſtände entdecken, welche vor- nehmlich die Form der Handlung *) beſtimm- ten *) Die peinliche Halsgerichtsordnung ſagt im 47. Ar- tikel, nachdem ſie dem Richter zur Pflicht gemacht hat, den Angeſchuldigten zur Angabe von Ent- ſchuldigungsgründen zu veranlaſſen, ſehr wahr: „Vnnd ſolcher erinnerung iſt darumb not, daſs mancher auſs eynfalt oder ſchrecken, nit fürzu- ſchlagen weiſs, ob er gleich vnſchuldig iſt, wie er ſich des entſchuldigen und auſsfüren ſoll.„

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Ideen zu einer Kriminalpsychologie. Halle, 1792, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_crimipsyche_1792/50>, abgerufen am 21.11.2024.