Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 4. Berlin, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

§. 195. Zeit. 6. Unvordenkliche Zeit. Einleitung.
sey; und wenn die Stuarte siegreich zurückgekehrt wären,
so würde ihnen die Anerkennung ihres fortdauernden Rechts
nicht gefehlt haben. Als aber in der Person des Kardi-
nals von York der Stuartsche Königsstamm erlosch (1806),
da hatte England und Europa längst aufgehört, an dem
rechtmäßigen Thronbesitz des Hauses Braunschweig zu zwei-
feln. Niemand kann hier und in ähnlichen Fällen ein Jahr
angeben, worin der Zweifel in Gewißheit übergeht; wohl
aber läßt sich die Bedingung dieses Übergangs durch all-
gemeine Charactere bezeichnen. Wenn der gegenwärtige
Zustand schon so lange besteht, daß die jetztlebende Gene-
ration keinen andern gekannt, ja selbst von ihren nächsten
Vorfahren keinen andern, als von diesen selbst erlebt, er-
fahren hat, dann kann man annehmen, daß dieser Zustand
mit den Überzeugungen, Gefühlen und Interessen der Na-
tion gänzlich verschmolzen ist, und so ist dann Dasjenige
vollendet, was man die publicistische Verjährung nennen
könnte. Da nun dieses gerade der Character ist, welchen
unsre Schriftsteller der unvordenklichen Zeit zuschreiben,
so haben wir das Urbild derselben im öffentlichen Recht
aufgefunden.

Damit aber ist zugleich auch der Weg gebahnt, um
die Fälle ihrer Anwendung im Privatrecht zu bestimmen.
Es giebt in diesem manche Rechte, die nicht unmittelbar
auf dem Boden desselben entsprungen sind, sondern aus
einer publicistischen Einwirkung auf das Privatrecht her-
rühren. Der Natur solcher Rechte ist es angemessen, auch

31*

§. 195. Zeit. 6. Unvordenkliche Zeit. Einleitung.
ſey; und wenn die Stuarte ſiegreich zurückgekehrt wären,
ſo würde ihnen die Anerkennung ihres fortdauernden Rechts
nicht gefehlt haben. Als aber in der Perſon des Kardi-
nals von York der Stuartſche Königsſtamm erloſch (1806),
da hatte England und Europa längſt aufgehört, an dem
rechtmäßigen Thronbeſitz des Hauſes Braunſchweig zu zwei-
feln. Niemand kann hier und in ähnlichen Fällen ein Jahr
angeben, worin der Zweifel in Gewißheit übergeht; wohl
aber läßt ſich die Bedingung dieſes Übergangs durch all-
gemeine Charactere bezeichnen. Wenn der gegenwärtige
Zuſtand ſchon ſo lange beſteht, daß die jetztlebende Gene-
ration keinen andern gekannt, ja ſelbſt von ihren nächſten
Vorfahren keinen andern, als von dieſen ſelbſt erlebt, er-
fahren hat, dann kann man annehmen, daß dieſer Zuſtand
mit den Überzeugungen, Gefühlen und Intereſſen der Na-
tion gänzlich verſchmolzen iſt, und ſo iſt dann Dasjenige
vollendet, was man die publiciſtiſche Verjährung nennen
könnte. Da nun dieſes gerade der Character iſt, welchen
unſre Schriftſteller der unvordenklichen Zeit zuſchreiben,
ſo haben wir das Urbild derſelben im öffentlichen Recht
aufgefunden.

Damit aber iſt zugleich auch der Weg gebahnt, um
die Fälle ihrer Anwendung im Privatrecht zu beſtimmen.
Es giebt in dieſem manche Rechte, die nicht unmittelbar
auf dem Boden deſſelben entſprungen ſind, ſondern aus
einer publiciſtiſchen Einwirkung auf das Privatrecht her-
rühren. Der Natur ſolcher Rechte iſt es angemeſſen, auch

31*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0497" n="483"/><fw place="top" type="header">§. 195. Zeit. 6. Unvordenkliche Zeit. Einleitung.</fw><lb/>
&#x017F;ey; und wenn die Stuarte &#x017F;iegreich zurückgekehrt wären,<lb/>
&#x017F;o würde ihnen die Anerkennung ihres fortdauernden Rechts<lb/>
nicht gefehlt haben. Als aber in der Per&#x017F;on des Kardi-<lb/>
nals von York der Stuart&#x017F;che Königs&#x017F;tamm erlo&#x017F;ch (1806),<lb/>
da hatte England und Europa läng&#x017F;t aufgehört, an dem<lb/>
rechtmäßigen Thronbe&#x017F;itz des Hau&#x017F;es Braun&#x017F;chweig zu zwei-<lb/>
feln. Niemand kann hier und in ähnlichen Fällen ein Jahr<lb/>
angeben, worin der Zweifel in Gewißheit übergeht; wohl<lb/>
aber läßt &#x017F;ich die Bedingung die&#x017F;es Übergangs durch all-<lb/>
gemeine Charactere bezeichnen. Wenn der gegenwärtige<lb/>
Zu&#x017F;tand &#x017F;chon &#x017F;o lange be&#x017F;teht, daß die jetztlebende Gene-<lb/>
ration keinen andern gekannt, ja &#x017F;elb&#x017F;t von ihren näch&#x017F;ten<lb/>
Vorfahren keinen andern, als von die&#x017F;en &#x017F;elb&#x017F;t erlebt, er-<lb/>
fahren hat, dann kann man annehmen, daß die&#x017F;er Zu&#x017F;tand<lb/>
mit den Überzeugungen, Gefühlen und Intere&#x017F;&#x017F;en der Na-<lb/>
tion gänzlich ver&#x017F;chmolzen i&#x017F;t, und &#x017F;o i&#x017F;t dann Dasjenige<lb/>
vollendet, was man die publici&#x017F;ti&#x017F;che Verjährung nennen<lb/>
könnte. Da nun die&#x017F;es gerade der Character i&#x017F;t, welchen<lb/>
un&#x017F;re Schrift&#x017F;teller der unvordenklichen Zeit zu&#x017F;chreiben,<lb/>
&#x017F;o haben wir das Urbild der&#x017F;elben im öffentlichen Recht<lb/>
aufgefunden.</p><lb/>
            <p>Damit aber i&#x017F;t zugleich auch der Weg gebahnt, um<lb/>
die Fälle ihrer Anwendung im Privatrecht zu be&#x017F;timmen.<lb/>
Es giebt in die&#x017F;em manche Rechte, die nicht unmittelbar<lb/>
auf dem Boden de&#x017F;&#x017F;elben ent&#x017F;prungen &#x017F;ind, &#x017F;ondern aus<lb/>
einer publici&#x017F;ti&#x017F;chen Einwirkung auf das Privatrecht her-<lb/>
rühren. Der Natur &#x017F;olcher Rechte i&#x017F;t es angeme&#x017F;&#x017F;en, auch<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">31*</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[483/0497] §. 195. Zeit. 6. Unvordenkliche Zeit. Einleitung. ſey; und wenn die Stuarte ſiegreich zurückgekehrt wären, ſo würde ihnen die Anerkennung ihres fortdauernden Rechts nicht gefehlt haben. Als aber in der Perſon des Kardi- nals von York der Stuartſche Königsſtamm erloſch (1806), da hatte England und Europa längſt aufgehört, an dem rechtmäßigen Thronbeſitz des Hauſes Braunſchweig zu zwei- feln. Niemand kann hier und in ähnlichen Fällen ein Jahr angeben, worin der Zweifel in Gewißheit übergeht; wohl aber läßt ſich die Bedingung dieſes Übergangs durch all- gemeine Charactere bezeichnen. Wenn der gegenwärtige Zuſtand ſchon ſo lange beſteht, daß die jetztlebende Gene- ration keinen andern gekannt, ja ſelbſt von ihren nächſten Vorfahren keinen andern, als von dieſen ſelbſt erlebt, er- fahren hat, dann kann man annehmen, daß dieſer Zuſtand mit den Überzeugungen, Gefühlen und Intereſſen der Na- tion gänzlich verſchmolzen iſt, und ſo iſt dann Dasjenige vollendet, was man die publiciſtiſche Verjährung nennen könnte. Da nun dieſes gerade der Character iſt, welchen unſre Schriftſteller der unvordenklichen Zeit zuſchreiben, ſo haben wir das Urbild derſelben im öffentlichen Recht aufgefunden. Damit aber iſt zugleich auch der Weg gebahnt, um die Fälle ihrer Anwendung im Privatrecht zu beſtimmen. Es giebt in dieſem manche Rechte, die nicht unmittelbar auf dem Boden deſſelben entſprungen ſind, ſondern aus einer publiciſtiſchen Einwirkung auf das Privatrecht her- rühren. Der Natur ſolcher Rechte iſt es angemeſſen, auch 31*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system04_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system04_1841/497
Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 4. Berlin, 1841, S. 483. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system04_1841/497>, abgerufen am 22.11.2024.