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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 3. Berlin, 1840.

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Buch II. Rechtsverhältnisse. Kap. III. Entstehung und Untergang.
beantworten übrig: was ist der Grund der aufgestellten
Regeln, und insbesondere der auffallenden Regel, nach
welcher in Testamenten die in solcher Weise bedingte Ver-
fügung als unbedingt aufrecht erhalten wird? was ist also
zugleich der Grund, die Testamente hierin anders zu be-
handeln, als die Verträge?

Die scheinbare Genealogie der Gedanken ist diese: Un-
mögliche Bedingungen gelten als nicht geschrieben, und
weil die unsittlichen für den besseren Menschen zugleich
unmögliche sind, so müssen sie juristisch eben so behandelt
werden, wie es sich bey den unmöglichen ohnehin von selbst
versteht. Der Typus also, von welchem in diesen zusam-
menhängenden Regeln ausgegangen werden müßte, wäre
etwa die in den Rechtsquellen erwähnte Bedingung: si di-
gito coelum tetigerit, heres esto.

Allein nach dieser Auffassung bleibt die Sache von
allen Seiten unerklärlich. Erwägen wir zuerst das logi-
sche Wesen der Bedingung, so führt dieses gerade auf
das entgegengesetzte Resultat. Denn das Seyn oder Nicht-
seyn der bedingenden Thatsache soll das Seyn oder Nicht-
seyn des Rechtsverhältnisses zur Folge haben, darin be-
steht das Wesen der Bedingung. Nun ist aber das Nicht-
seyn der Thatsache im Fall der Unmöglichkeit eben so un-
zweifelhaft, als im Fall der zufälligen Vereitlung. Diese
Identität wird bey den Verträgen ausdrücklich anerkannt,
warum nicht bey den Testamenten? Die Unterscheidung
derselben von den Verträgen fand schon Gajus anstößig,

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
beantworten übrig: was iſt der Grund der aufgeſtellten
Regeln, und insbeſondere der auffallenden Regel, nach
welcher in Teſtamenten die in ſolcher Weiſe bedingte Ver-
fügung als unbedingt aufrecht erhalten wird? was iſt alſo
zugleich der Grund, die Teſtamente hierin anders zu be-
handeln, als die Verträge?

Die ſcheinbare Genealogie der Gedanken iſt dieſe: Un-
mögliche Bedingungen gelten als nicht geſchrieben, und
weil die unſittlichen für den beſſeren Menſchen zugleich
unmögliche ſind, ſo müſſen ſie juriſtiſch eben ſo behandelt
werden, wie es ſich bey den unmoͤglichen ohnehin von ſelbſt
verſteht. Der Typus alſo, von welchem in dieſen zuſam-
menhängenden Regeln ausgegangen werden müßte, wäre
etwa die in den Rechtsquellen erwähnte Bedingung: si di-
gito coelum tetigerit, heres esto.

Allein nach dieſer Auffaſſung bleibt die Sache von
allen Seiten unerklärlich. Erwägen wir zuerſt das logi-
ſche Weſen der Bedingung, ſo führt dieſes gerade auf
das entgegengeſetzte Reſultat. Denn das Seyn oder Nicht-
ſeyn der bedingenden Thatſache ſoll das Seyn oder Nicht-
ſeyn des Rechtsverhältniſſes zur Folge haben, darin be-
ſteht das Weſen der Bedingung. Nun iſt aber das Nicht-
ſeyn der Thatſache im Fall der Unmöglichkeit eben ſo un-
zweifelhaft, als im Fall der zufälligen Vereitlung. Dieſe
Identität wird bey den Verträgen ausdrücklich anerkannt,
warum nicht bey den Teſtamenten? Die Unterſcheidung
derſelben von den Verträgen fand ſchon Gajus anſtoͤßig,

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[194/0206] Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang. beantworten übrig: was iſt der Grund der aufgeſtellten Regeln, und insbeſondere der auffallenden Regel, nach welcher in Teſtamenten die in ſolcher Weiſe bedingte Ver- fügung als unbedingt aufrecht erhalten wird? was iſt alſo zugleich der Grund, die Teſtamente hierin anders zu be- handeln, als die Verträge? Die ſcheinbare Genealogie der Gedanken iſt dieſe: Un- mögliche Bedingungen gelten als nicht geſchrieben, und weil die unſittlichen für den beſſeren Menſchen zugleich unmögliche ſind, ſo müſſen ſie juriſtiſch eben ſo behandelt werden, wie es ſich bey den unmoͤglichen ohnehin von ſelbſt verſteht. Der Typus alſo, von welchem in dieſen zuſam- menhängenden Regeln ausgegangen werden müßte, wäre etwa die in den Rechtsquellen erwähnte Bedingung: si di- gito coelum tetigerit, heres esto. Allein nach dieſer Auffaſſung bleibt die Sache von allen Seiten unerklärlich. Erwägen wir zuerſt das logi- ſche Weſen der Bedingung, ſo führt dieſes gerade auf das entgegengeſetzte Reſultat. Denn das Seyn oder Nicht- ſeyn der bedingenden Thatſache ſoll das Seyn oder Nicht- ſeyn des Rechtsverhältniſſes zur Folge haben, darin be- ſteht das Weſen der Bedingung. Nun iſt aber das Nicht- ſeyn der Thatſache im Fall der Unmöglichkeit eben ſo un- zweifelhaft, als im Fall der zufälligen Vereitlung. Dieſe Identität wird bey den Verträgen ausdrücklich anerkannt, warum nicht bey den Teſtamenten? Die Unterſcheidung derſelben von den Verträgen fand ſchon Gajus anſtoͤßig,

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 3. Berlin, 1840, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system03_1840/206>, abgerufen am 06.05.2024.