Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.§. 38. Justinianische Gesetze. Kritik. Willen des Gesetzgebers abgewehrt werden müßte. Alleines ist oben gezeigt worden, daß selbst der wirkliche Aus- druck des Gesetzes aus dem Gedanken desselben durch Auslegung berichtigt werden darf (§ 37), welches Verfah- ren auf dem Vorzug des Geistes vor dem Buchstaben beruht. Nun ist aber der gedruckte Text, im Verhältniß zu dem wirklichen Ausdruck, doch nur als der Buchstab des Buchstabs anzusehen, so daß er tiefer steht als jener; daher wird auch er einer gleichen Berichtigung sich nicht entziehen können. Freylich aber wird dieser Fall sehr selten vorkommen, und er hat daher in der allgemei- nen Betrachtung der Kritik geringe Erheblichkeit (b). Allein der hier beschriebene Fall ist auch keinesweges (b) Ein merkwürdiges Bey- spiel aus neuerer Zeit ist folgen- des. Das Königlich Westphäli- sche Dekret vom 18. Jan. 1813 Art. 3, legte dem Zehentherrn eines Gutes den zehenten Theil der Grundsteuer auf "wenn der Zehentherr den zehnten Theil des reinen Ertrages bezieht:" außer diesem Fall, nach Verhält- niß, mehr oder weniger als ein Zehentheil (Bülletin N. 3 von 1813. S. 45). In einem späte- ren Stück des Gesetzbülletins aber steht: "Bülletin Nr. 3 ... des reinen Ertrags, lies: des rohen Ertrags." Diese Berichtigung, die gleichzeitig im Moniteur vom 3. Febr. stand, war jedoch ohne Unterschrift oder andere Beglaubigung, und stand überdem im Widerspruch mit der schriftlichen Originalurkunde. Das praktische Resultat beider Lese- arten ist höchst verschieden, und es fragte sich nun, welche vor- gehen sollte. Nach der ersten Leseart war das Gesetz in conse- quentem Zusammenhang mit den allgemeinen Steuergrundsätzen, aber sehr schwer auszuführen: nach der zweyten Leseart verhielt sich Beides gerade umgekehrt. 16*
§. 38. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik. Willen des Geſetzgebers abgewehrt werden müßte. Alleines iſt oben gezeigt worden, daß ſelbſt der wirkliche Aus- druck des Geſetzes aus dem Gedanken deſſelben durch Auslegung berichtigt werden darf (§ 37), welches Verfah- ren auf dem Vorzug des Geiſtes vor dem Buchſtaben beruht. Nun iſt aber der gedruckte Text, im Verhältniß zu dem wirklichen Ausdruck, doch nur als der Buchſtab des Buchſtabs anzuſehen, ſo daß er tiefer ſteht als jener; daher wird auch er einer gleichen Berichtigung ſich nicht entziehen können. Freylich aber wird dieſer Fall ſehr ſelten vorkommen, und er hat daher in der allgemei- nen Betrachtung der Kritik geringe Erheblichkeit (b). Allein der hier beſchriebene Fall iſt auch keinesweges (b) Ein merkwürdiges Bey- ſpiel aus neuerer Zeit iſt folgen- des. Das Königlich Weſtphäli- ſche Dekret vom 18. Jan. 1813 Art. 3, legte dem Zehentherrn eines Gutes den zehenten Theil der Grundſteuer auf „wenn der Zehentherr den zehnten Theil des reinen Ertrages bezieht:“ außer dieſem Fall, nach Verhält- niß, mehr oder weniger als ein Zehentheil (Bülletin N. 3 von 1813. S. 45). In einem ſpäte- ren Stück des Geſetzbülletins aber ſteht: „Bülletin Nr. 3 … des reinen Ertrags, lies: des rohen Ertrags.“ Dieſe Berichtigung, die gleichzeitig im Moniteur vom 3. Febr. ſtand, war jedoch ohne Unterſchrift oder andere Beglaubigung, und ſtand überdem im Widerſpruch mit der ſchriftlichen Originalurkunde. Das praktiſche Reſultat beider Leſe- arten iſt höchſt verſchieden, und es fragte ſich nun, welche vor- gehen ſollte. Nach der erſten Leſeart war das Geſetz in conſe- quentem Zuſammenhang mit den allgemeinen Steuergrundſätzen, aber ſehr ſchwer auszuführen: nach der zweyten Leſeart verhielt ſich Beides gerade umgekehrt. 16*
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§. 38. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik.
Willen des Geſetzgebers abgewehrt werden müßte. Allein
es iſt oben gezeigt worden, daß ſelbſt der wirkliche Aus-
druck des Geſetzes aus dem Gedanken deſſelben durch
Auslegung berichtigt werden darf (§ 37), welches Verfah-
ren auf dem Vorzug des Geiſtes vor dem Buchſtaben
beruht. Nun iſt aber der gedruckte Text, im Verhältniß
zu dem wirklichen Ausdruck, doch nur als der Buchſtab
des Buchſtabs anzuſehen, ſo daß er tiefer ſteht als
jener; daher wird auch er einer gleichen Berichtigung ſich
nicht entziehen können. Freylich aber wird dieſer Fall
ſehr ſelten vorkommen, und er hat daher in der allgemei-
nen Betrachtung der Kritik geringe Erheblichkeit (b).
Allein der hier beſchriebene Fall iſt auch keinesweges
der, in welchem wir uns befinden im Verhältniß zu den
Quellen des Juſtinianiſchen Rechts. Daß wir keinen ge-
ſetzlich überlieferten Text haben, giebt wohl Jeder zu.
(b) Ein merkwürdiges Bey-
ſpiel aus neuerer Zeit iſt folgen-
des. Das Königlich Weſtphäli-
ſche Dekret vom 18. Jan. 1813
Art. 3, legte dem Zehentherrn
eines Gutes den zehenten Theil
der Grundſteuer auf „wenn der
Zehentherr den zehnten Theil des
reinen Ertrages bezieht:“
außer dieſem Fall, nach Verhält-
niß, mehr oder weniger als ein
Zehentheil (Bülletin N. 3 von
1813. S. 45). In einem ſpäte-
ren Stück des Geſetzbülletins
aber ſteht: „Bülletin Nr. 3 …
des reinen Ertrags, lies:
des rohen Ertrags.“ Dieſe
Berichtigung, die gleichzeitig im
Moniteur vom 3. Febr. ſtand,
war jedoch ohne Unterſchrift oder
andere Beglaubigung, und ſtand
überdem im Widerſpruch mit der
ſchriftlichen Originalurkunde. Das
praktiſche Reſultat beider Leſe-
arten iſt höchſt verſchieden, und
es fragte ſich nun, welche vor-
gehen ſollte. Nach der erſten
Leſeart war das Geſetz in conſe-
quentem Zuſammenhang mit den
allgemeinen Steuergrundſätzen,
aber ſehr ſchwer auszuführen:
nach der zweyten Leſeart verhielt
ſich Beides gerade umgekehrt.
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