Mit diesen vier Elementen ist die Einsicht in den In- halt des Gesetzes vollendet. Es sind also nicht vier Arten der Auslegung, unter denen man nach Geschmack und Belieben wählen könnte, sondern es sind verschiedene Thä- tigkeiten, die vereinigt wirken müssen, wenn die Auslegung gelingen soll. Nur wird freylich bald die eine, bald die andere wichtiger seyn und sichtbarer hervortreten, so daß nur die stete Richtung der Aufmerksamkeit nach allen die- sen Seiten unerläßlich ist, wenngleich in vielen einzelnen Fällen die ausdrückliche Erwähnung eines jeden dieser Elemente als unnütz und schwerfällig unterlassen werden kann, ohne Gefahr für die Gründlichkeit der Auslegung. Von zwey Bedingungen aber hängt der Erfolg jeder Aus- legung ab, und darin lassen sich jene vier Elemente kurz zusammen fassen: erstlich daß wir uns die geistige Thätigkeit, woraus der vor uns liegende einzelne Ausdruck von Gedanken hervorgegangen ist, lebendig vergegenwärtigen: zweytens, daß wir die Anschauung des historisch-dogmatischen Gan- zen, woraus dieses Einzelne allein Licht erhalten kann, in hinlänglicher Bereitschaft haben, um die Beziehungen des- selben in dem vorliegenden Text sogleich wahrzunehmen. Erwägen wir diese Bedingungen, so vermindert sich da- durch das Auffallende mancher Erscheinung, die uns leicht an der Richtigkeit unsres Urtheils irre machen könnte. Wir finden nämlich nicht selten bey gelehrten und berühm- ten Schriftstellern Interpretationen von fast unbegreiflicher Verkehrtheit, während talentvolle Schüler, denen wir densel-
§. 33. Auslegung einzelner Geſetze. Grundregeln.
Mit dieſen vier Elementen iſt die Einſicht in den In- halt des Geſetzes vollendet. Es ſind alſo nicht vier Arten der Auslegung, unter denen man nach Geſchmack und Belieben wählen könnte, ſondern es ſind verſchiedene Thä- tigkeiten, die vereinigt wirken müſſen, wenn die Auslegung gelingen ſoll. Nur wird freylich bald die eine, bald die andere wichtiger ſeyn und ſichtbarer hervortreten, ſo daß nur die ſtete Richtung der Aufmerkſamkeit nach allen die- ſen Seiten unerläßlich iſt, wenngleich in vielen einzelnen Fällen die ausdrückliche Erwähnung eines jeden dieſer Elemente als unnütz und ſchwerfällig unterlaſſen werden kann, ohne Gefahr für die Gründlichkeit der Auslegung. Von zwey Bedingungen aber hängt der Erfolg jeder Aus- legung ab, und darin laſſen ſich jene vier Elemente kurz zuſammen faſſen: erſtlich daß wir uns die geiſtige Thätigkeit, woraus der vor uns liegende einzelne Ausdruck von Gedanken hervorgegangen iſt, lebendig vergegenwärtigen: zweytens, daß wir die Anſchauung des hiſtoriſch-dogmatiſchen Gan- zen, woraus dieſes Einzelne allein Licht erhalten kann, in hinlänglicher Bereitſchaft haben, um die Beziehungen deſ- ſelben in dem vorliegenden Text ſogleich wahrzunehmen. Erwägen wir dieſe Bedingungen, ſo vermindert ſich da- durch das Auffallende mancher Erſcheinung, die uns leicht an der Richtigkeit unſres Urtheils irre machen könnte. Wir finden nämlich nicht ſelten bey gelehrten und berühm- ten Schriftſtellern Interpretationen von faſt unbegreiflicher Verkehrtheit, während talentvolle Schüler, denen wir denſel-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0271"n="215"/><fwplace="top"type="header">§. 33. Auslegung einzelner Geſetze. Grundregeln.</fw><lb/><p>Mit dieſen vier Elementen iſt die Einſicht in den In-<lb/>
halt des Geſetzes vollendet. Es ſind alſo nicht vier Arten<lb/>
der Auslegung, unter denen man nach Geſchmack und<lb/>
Belieben wählen könnte, ſondern es ſind verſchiedene Thä-<lb/>
tigkeiten, die vereinigt wirken müſſen, wenn die Auslegung<lb/>
gelingen ſoll. Nur wird freylich bald die eine, bald die<lb/>
andere wichtiger ſeyn und ſichtbarer hervortreten, ſo daß<lb/>
nur die ſtete Richtung der Aufmerkſamkeit nach allen die-<lb/>ſen Seiten unerläßlich iſt, wenngleich in vielen einzelnen<lb/>
Fällen die ausdrückliche Erwähnung eines jeden dieſer<lb/>
Elemente als unnütz und ſchwerfällig unterlaſſen werden<lb/>
kann, ohne Gefahr für die Gründlichkeit der Auslegung.<lb/>
Von zwey Bedingungen aber hängt der Erfolg jeder Aus-<lb/>
legung ab, und darin laſſen ſich jene vier Elemente kurz<lb/>
zuſammen faſſen: erſtlich daß wir uns die geiſtige Thätigkeit,<lb/>
woraus der vor uns liegende einzelne Ausdruck von Gedanken<lb/>
hervorgegangen iſt, lebendig vergegenwärtigen: zweytens,<lb/>
daß wir die Anſchauung des hiſtoriſch-dogmatiſchen Gan-<lb/>
zen, woraus dieſes Einzelne allein Licht erhalten kann, in<lb/>
hinlänglicher Bereitſchaft haben, um die Beziehungen deſ-<lb/>ſelben in dem vorliegenden Text ſogleich wahrzunehmen.<lb/>
Erwägen wir dieſe Bedingungen, ſo vermindert ſich da-<lb/>
durch das Auffallende mancher Erſcheinung, die uns leicht<lb/>
an der Richtigkeit unſres Urtheils irre machen könnte.<lb/>
Wir finden nämlich nicht ſelten bey gelehrten und berühm-<lb/>
ten Schriftſtellern Interpretationen von faſt unbegreiflicher<lb/>
Verkehrtheit, während talentvolle Schüler, denen wir denſel-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[215/0271]
§. 33. Auslegung einzelner Geſetze. Grundregeln.
Mit dieſen vier Elementen iſt die Einſicht in den In-
halt des Geſetzes vollendet. Es ſind alſo nicht vier Arten
der Auslegung, unter denen man nach Geſchmack und
Belieben wählen könnte, ſondern es ſind verſchiedene Thä-
tigkeiten, die vereinigt wirken müſſen, wenn die Auslegung
gelingen ſoll. Nur wird freylich bald die eine, bald die
andere wichtiger ſeyn und ſichtbarer hervortreten, ſo daß
nur die ſtete Richtung der Aufmerkſamkeit nach allen die-
ſen Seiten unerläßlich iſt, wenngleich in vielen einzelnen
Fällen die ausdrückliche Erwähnung eines jeden dieſer
Elemente als unnütz und ſchwerfällig unterlaſſen werden
kann, ohne Gefahr für die Gründlichkeit der Auslegung.
Von zwey Bedingungen aber hängt der Erfolg jeder Aus-
legung ab, und darin laſſen ſich jene vier Elemente kurz
zuſammen faſſen: erſtlich daß wir uns die geiſtige Thätigkeit,
woraus der vor uns liegende einzelne Ausdruck von Gedanken
hervorgegangen iſt, lebendig vergegenwärtigen: zweytens,
daß wir die Anſchauung des hiſtoriſch-dogmatiſchen Gan-
zen, woraus dieſes Einzelne allein Licht erhalten kann, in
hinlänglicher Bereitſchaft haben, um die Beziehungen deſ-
ſelben in dem vorliegenden Text ſogleich wahrzunehmen.
Erwägen wir dieſe Bedingungen, ſo vermindert ſich da-
durch das Auffallende mancher Erſcheinung, die uns leicht
an der Richtigkeit unſres Urtheils irre machen könnte.
Wir finden nämlich nicht ſelten bey gelehrten und berühm-
ten Schriftſtellern Interpretationen von faſt unbegreiflicher
Verkehrtheit, während talentvolle Schüler, denen wir denſel-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/271>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.