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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.

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§. 32. Begriff der Auslegung. Legale und doctrinelle.
ein älteres Gesetz verstanden werden soll, so ist dadurch
jene freye Thätigkeit gänzlich ausgeschlossen, und das
ältere Gesetz muß in dem nunmehr vorgeschriebenen Sinn
auch von Denjenigen aufgefaßt und angewendet werden,
welche etwa für sich von der Unrichtigkeit dieser Ausle-
gung überzeugt seyn mögen. Die Neueren nennen dieses,
je nachdem es auf Gesetz oder Gewohnheitsrecht (c) be-
ruht, die authentische und usuelle Interpretation,
beide zusammen die legale, welche sie nun der doctri-
nellen
, das heißt der oben beschriebenen freyen oder wis-
senschaftlichen Thätigkeit entgegensetzen. -- Die Vorstel-
lungsweise, welche diesen Kunstausdrücken zum Grunde
liegt, ist insoferne richtig, als man blos das letzte Ziel,
nämlich den anzuerkennenden Inhalt des Gesetzes, ins
Auge faßt. Dann heißt Auslegung jedes Mittel zu die-
sem Zweck, und dieser Begriff unterliegt ferner der eben
erwähnten Eintheilung. Wenn man dagegen auf das
Wesen des Verfahrens sieht, so muß man nothwen-
dig von dem oben aufgestellten Begriff der Auslegung als
einer freyen Thätigkeit ausgehen, weil diese durch die Be-
stimmung eines jeden Gesetzes selbst, als das allgemeine
und nothwendige gegeben ist. Denn jedes Gesetz soll ins
Leben treten, was zunächst nur durch geistige Auffassung

(c) Dieses interpretirende Ge-
wohnheitsrecht wird immer zu-
gleich die Natur des wissenschaft-
lichen Rechts an sich tragen
(§ 14. 20.). Denn ein allgemei-
nes Volksbewußtseyn, welches
die Auffassung eines einzelnen
Gesetzes zum Gegenstand hätte,
ist nur in den seltensten Fällen
denkbar.
14

§. 32. Begriff der Auslegung. Legale und doctrinelle.
ein älteres Geſetz verſtanden werden ſoll, ſo iſt dadurch
jene freye Thätigkeit gänzlich ausgeſchloſſen, und das
ältere Geſetz muß in dem nunmehr vorgeſchriebenen Sinn
auch von Denjenigen aufgefaßt und angewendet werden,
welche etwa für ſich von der Unrichtigkeit dieſer Ausle-
gung überzeugt ſeyn mögen. Die Neueren nennen dieſes,
je nachdem es auf Geſetz oder Gewohnheitsrecht (c) be-
ruht, die authentiſche und uſuelle Interpretation,
beide zuſammen die legale, welche ſie nun der doctri-
nellen
, das heißt der oben beſchriebenen freyen oder wiſ-
ſenſchaftlichen Thätigkeit entgegenſetzen. — Die Vorſtel-
lungsweiſe, welche dieſen Kunſtausdrücken zum Grunde
liegt, iſt inſoferne richtig, als man blos das letzte Ziel,
nämlich den anzuerkennenden Inhalt des Geſetzes, ins
Auge faßt. Dann heißt Auslegung jedes Mittel zu die-
ſem Zweck, und dieſer Begriff unterliegt ferner der eben
erwähnten Eintheilung. Wenn man dagegen auf das
Weſen des Verfahrens ſieht, ſo muß man nothwen-
dig von dem oben aufgeſtellten Begriff der Auslegung als
einer freyen Thätigkeit ausgehen, weil dieſe durch die Be-
ſtimmung eines jeden Geſetzes ſelbſt, als das allgemeine
und nothwendige gegeben iſt. Denn jedes Geſetz ſoll ins
Leben treten, was zunächſt nur durch geiſtige Auffaſſung

(c) Dieſes interpretirende Ge-
wohnheitsrecht wird immer zu-
gleich die Natur des wiſſenſchaft-
lichen Rechts an ſich tragen
(§ 14. 20.). Denn ein allgemei-
nes Volksbewußtſeyn, welches
die Auffaſſung eines einzelnen
Geſetzes zum Gegenſtand hätte,
iſt nur in den ſeltenſten Fällen
denkbar.
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[209/0265] §. 32. Begriff der Auslegung. Legale und doctrinelle. ein älteres Geſetz verſtanden werden ſoll, ſo iſt dadurch jene freye Thätigkeit gänzlich ausgeſchloſſen, und das ältere Geſetz muß in dem nunmehr vorgeſchriebenen Sinn auch von Denjenigen aufgefaßt und angewendet werden, welche etwa für ſich von der Unrichtigkeit dieſer Ausle- gung überzeugt ſeyn mögen. Die Neueren nennen dieſes, je nachdem es auf Geſetz oder Gewohnheitsrecht (c) be- ruht, die authentiſche und uſuelle Interpretation, beide zuſammen die legale, welche ſie nun der doctri- nellen, das heißt der oben beſchriebenen freyen oder wiſ- ſenſchaftlichen Thätigkeit entgegenſetzen. — Die Vorſtel- lungsweiſe, welche dieſen Kunſtausdrücken zum Grunde liegt, iſt inſoferne richtig, als man blos das letzte Ziel, nämlich den anzuerkennenden Inhalt des Geſetzes, ins Auge faßt. Dann heißt Auslegung jedes Mittel zu die- ſem Zweck, und dieſer Begriff unterliegt ferner der eben erwähnten Eintheilung. Wenn man dagegen auf das Weſen des Verfahrens ſieht, ſo muß man nothwen- dig von dem oben aufgeſtellten Begriff der Auslegung als einer freyen Thätigkeit ausgehen, weil dieſe durch die Be- ſtimmung eines jeden Geſetzes ſelbſt, als das allgemeine und nothwendige gegeben iſt. Denn jedes Geſetz ſoll ins Leben treten, was zunächſt nur durch geiſtige Auffaſſung (c) Dieſes interpretirende Ge- wohnheitsrecht wird immer zu- gleich die Natur des wiſſenſchaft- lichen Rechts an ſich tragen (§ 14. 20.). Denn ein allgemei- nes Volksbewußtſeyn, welches die Auffaſſung eines einzelnen Geſetzes zum Gegenſtand hätte, iſt nur in den ſeltenſten Fällen denkbar. 14

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/265>, abgerufen am 19.05.2024.