Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

§. 32. Begriff der Auslegung. Legale und doctrinelle.
hier aber erscheint sie auf umgekehrte Weise, insoferne sie
das unabhängig von ihr entstandene Recht aufnimmt und
zum bestimmten Bewußtseyn bringt.

Eine solche Aufnahme des Rechts ist denkbar und
nothwendig bey allen Arten der Rechtsquellen. Jedoch
bey dem Gewohnheitsrecht und bey dem wissenschaftlichen
Recht ist das Geschäft einfacherer Natur. Zwar über
das Wesen dieser Arten der Rechtserzeugung kommen sehr
einflußreiche Irrthümer vor, wovon schon oben gehandelt
worden ist. Sind aber diese erkannt und vermieden, so
ist das Geschäft selbst einer ins Einzelne gehenden Anwei-
sung nicht bedürftig. Anders verhält es sich mit den Ge-
setzen, bey welchen gerade dieses Geschäft oft eine sehr
verwickelte Natur hat. Aus diesem Grunde hat der ge-
genwärtige Abschnitt die specielle Bezeichnung von der
Auslegung der Gesetze erhalten.

Die hierin enthaltene freye Geistesthätigkeit läßt sich
dahin bestimmen, daß wir das Gesetz in seiner Wahr-
heit erkennen, das heißt so wie uns dessen Wahrheit durch
Anwendung eines regelmäßigen Verfahrens erkennbar wird.
Sie ist bey jedem Gesetze, wenn es in das Leben eingrei-
fen soll, nothwendig, und in dieser ihrer allgemeinen Noth-
wendigkeit liegt zugleich ihre Rechtfertigung. -- Ihre
Anwendbarkeit ist also nicht etwa, wie Viele annehmen,
bedingt durch den ganz zufälligen Umstand der Dunkelheit
eines Gesetzes (§ 50). Allerdings kann sie dadurch beson-
ders wichtig und erfolgreich werden. Allein jene Eigen-

§. 32. Begriff der Auslegung. Legale und doctrinelle.
hier aber erſcheint ſie auf umgekehrte Weiſe, inſoferne ſie
das unabhängig von ihr entſtandene Recht aufnimmt und
zum beſtimmten Bewußtſeyn bringt.

Eine ſolche Aufnahme des Rechts iſt denkbar und
nothwendig bey allen Arten der Rechtsquellen. Jedoch
bey dem Gewohnheitsrecht und bey dem wiſſenſchaftlichen
Recht iſt das Geſchäft einfacherer Natur. Zwar über
das Weſen dieſer Arten der Rechtserzeugung kommen ſehr
einflußreiche Irrthümer vor, wovon ſchon oben gehandelt
worden iſt. Sind aber dieſe erkannt und vermieden, ſo
iſt das Geſchäft ſelbſt einer ins Einzelne gehenden Anwei-
ſung nicht bedürftig. Anders verhält es ſich mit den Ge-
ſetzen, bey welchen gerade dieſes Geſchäft oft eine ſehr
verwickelte Natur hat. Aus dieſem Grunde hat der ge-
genwärtige Abſchnitt die ſpecielle Bezeichnung von der
Auslegung der Geſetze erhalten.

Die hierin enthaltene freye Geiſtesthätigkeit läßt ſich
dahin beſtimmen, daß wir das Geſetz in ſeiner Wahr-
heit erkennen, das heißt ſo wie uns deſſen Wahrheit durch
Anwendung eines regelmäßigen Verfahrens erkennbar wird.
Sie iſt bey jedem Geſetze, wenn es in das Leben eingrei-
fen ſoll, nothwendig, und in dieſer ihrer allgemeinen Noth-
wendigkeit liegt zugleich ihre Rechtfertigung. — Ihre
Anwendbarkeit iſt alſo nicht etwa, wie Viele annehmen,
bedingt durch den ganz zufälligen Umſtand der Dunkelheit
eines Geſetzes (§ 50). Allerdings kann ſie dadurch beſon-
ders wichtig und erfolgreich werden. Allein jene Eigen-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0263" n="207"/><fw place="top" type="header">§. 32. Begriff der Auslegung. Legale und doctrinelle.</fw><lb/>
hier aber er&#x017F;cheint &#x017F;ie auf umgekehrte Wei&#x017F;e, in&#x017F;oferne &#x017F;ie<lb/>
das unabhängig von ihr ent&#x017F;tandene Recht aufnimmt und<lb/>
zum be&#x017F;timmten Bewußt&#x017F;eyn bringt.</p><lb/>
            <p>Eine &#x017F;olche Aufnahme des Rechts i&#x017F;t denkbar und<lb/>
nothwendig bey allen Arten der Rechtsquellen. Jedoch<lb/>
bey dem Gewohnheitsrecht und bey dem wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen<lb/>
Recht i&#x017F;t das Ge&#x017F;chäft einfacherer Natur. Zwar über<lb/>
das We&#x017F;en die&#x017F;er Arten der Rechtserzeugung kommen &#x017F;ehr<lb/>
einflußreiche Irrthümer vor, wovon &#x017F;chon oben gehandelt<lb/>
worden i&#x017F;t. Sind aber die&#x017F;e erkannt und vermieden, &#x017F;o<lb/>
i&#x017F;t das Ge&#x017F;chäft &#x017F;elb&#x017F;t einer ins Einzelne gehenden Anwei-<lb/>
&#x017F;ung nicht bedürftig. Anders verhält es &#x017F;ich mit den Ge-<lb/>
&#x017F;etzen, bey welchen gerade die&#x017F;es Ge&#x017F;chäft oft eine &#x017F;ehr<lb/>
verwickelte Natur hat. Aus die&#x017F;em Grunde hat der ge-<lb/>
genwärtige Ab&#x017F;chnitt die &#x017F;pecielle Bezeichnung von der<lb/><hi rendition="#g">Auslegung der Ge&#x017F;etze</hi> erhalten.</p><lb/>
            <p>Die hierin enthaltene freye Gei&#x017F;testhätigkeit läßt &#x017F;ich<lb/>
dahin be&#x017F;timmen, daß wir das Ge&#x017F;etz in &#x017F;einer Wahr-<lb/>
heit erkennen, das heißt &#x017F;o wie uns de&#x017F;&#x017F;en Wahrheit durch<lb/>
Anwendung eines regelmäßigen Verfahrens erkennbar wird.<lb/>
Sie i&#x017F;t bey jedem Ge&#x017F;etze, wenn es in das Leben eingrei-<lb/>
fen &#x017F;oll, nothwendig, und in die&#x017F;er ihrer allgemeinen Noth-<lb/>
wendigkeit liegt zugleich ihre Rechtfertigung. &#x2014; Ihre<lb/>
Anwendbarkeit i&#x017F;t al&#x017F;o nicht etwa, wie Viele annehmen,<lb/>
bedingt durch den ganz zufälligen Um&#x017F;tand der Dunkelheit<lb/>
eines Ge&#x017F;etzes (§ 50). Allerdings kann &#x017F;ie dadurch be&#x017F;on-<lb/>
ders wichtig und erfolgreich werden. Allein jene Eigen-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[207/0263] §. 32. Begriff der Auslegung. Legale und doctrinelle. hier aber erſcheint ſie auf umgekehrte Weiſe, inſoferne ſie das unabhängig von ihr entſtandene Recht aufnimmt und zum beſtimmten Bewußtſeyn bringt. Eine ſolche Aufnahme des Rechts iſt denkbar und nothwendig bey allen Arten der Rechtsquellen. Jedoch bey dem Gewohnheitsrecht und bey dem wiſſenſchaftlichen Recht iſt das Geſchäft einfacherer Natur. Zwar über das Weſen dieſer Arten der Rechtserzeugung kommen ſehr einflußreiche Irrthümer vor, wovon ſchon oben gehandelt worden iſt. Sind aber dieſe erkannt und vermieden, ſo iſt das Geſchäft ſelbſt einer ins Einzelne gehenden Anwei- ſung nicht bedürftig. Anders verhält es ſich mit den Ge- ſetzen, bey welchen gerade dieſes Geſchäft oft eine ſehr verwickelte Natur hat. Aus dieſem Grunde hat der ge- genwärtige Abſchnitt die ſpecielle Bezeichnung von der Auslegung der Geſetze erhalten. Die hierin enthaltene freye Geiſtesthätigkeit läßt ſich dahin beſtimmen, daß wir das Geſetz in ſeiner Wahr- heit erkennen, das heißt ſo wie uns deſſen Wahrheit durch Anwendung eines regelmäßigen Verfahrens erkennbar wird. Sie iſt bey jedem Geſetze, wenn es in das Leben eingrei- fen ſoll, nothwendig, und in dieſer ihrer allgemeinen Noth- wendigkeit liegt zugleich ihre Rechtfertigung. — Ihre Anwendbarkeit iſt alſo nicht etwa, wie Viele annehmen, bedingt durch den ganz zufälligen Umſtand der Dunkelheit eines Geſetzes (§ 50). Allerdings kann ſie dadurch beſon- ders wichtig und erfolgreich werden. Allein jene Eigen-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/263
Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/263>, abgerufen am 14.08.2024.