Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
wirklich solche Fälle vorgekommen sind, und man dennoch die Anwendung des Gesetzes unterlassen hat. Dann aber ist in der That kein Grund vorhanden, der wahren, eigentlichen Gewohnheit jener Nichtanwendung weniger Kraft gegen das Gesetz einzuräumen, als derjenigen Gewohnheit, welche eine andere positive Regel anstatt des Gesetzes aufstellt. Ja eigentlich kann man jede desuetudo auch zugleich so auffassen, daß dadurch eine andere Regel substituirt wird. Denn wenn z. B. das Ver- bot der Zinseszinsen für die laufenden Rechnungen des Handelsstandes abgeschafft wird, so ist das allerdings zunächst eine desuetndo; allein diese hat zugleich die Folge, daß in solchen Fällen die allgemeinere Rechtsregel an- wendbar wird, wodurch alle nicht besonders verbotene Zinsverträge für gültig erklärt werden.
Eine Modification der Wirkung tritt ein, wenn eine partikuläre Gewohnheit entweder mit dem Staatsinteresse, oder mit einem absoluten allgemeinen Landesgesetz in Wi- derstreit ist. Hier muß der Gewohnheit, selbst wenn sie neuer ist als das Gesetz, jede Kraft abgesprochen werden, und dieser Satz folgt nicht nur aus der richtigen Erklä- rung der angeführten Stelle des Codex, sondern auch aus der Natur des Verhältnisses eines einzelnen Theils des Staates zum Ganzen (o). So würde z. B. ein neues Wuchergesetz allgemein angewendet werden müssen, und keine partikuläre Gewohnheit, möchte sie vor oder nach
(o) Vgl. die angeführte Beylage II.
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
wirklich ſolche Fälle vorgekommen ſind, und man dennoch die Anwendung des Geſetzes unterlaſſen hat. Dann aber iſt in der That kein Grund vorhanden, der wahren, eigentlichen Gewohnheit jener Nichtanwendung weniger Kraft gegen das Geſetz einzuräumen, als derjenigen Gewohnheit, welche eine andere poſitive Regel anſtatt des Geſetzes aufſtellt. Ja eigentlich kann man jede desuetudo auch zugleich ſo auffaſſen, daß dadurch eine andere Regel ſubſtituirt wird. Denn wenn z. B. das Ver- bot der Zinſeszinſen für die laufenden Rechnungen des Handelsſtandes abgeſchafft wird, ſo iſt das allerdings zunächſt eine desuetndo; allein dieſe hat zugleich die Folge, daß in ſolchen Fällen die allgemeinere Rechtsregel an- wendbar wird, wodurch alle nicht beſonders verbotene Zinsverträge für gültig erklärt werden.
Eine Modification der Wirkung tritt ein, wenn eine partikuläre Gewohnheit entweder mit dem Staatsintereſſe, oder mit einem abſoluten allgemeinen Landesgeſetz in Wi- derſtreit iſt. Hier muß der Gewohnheit, ſelbſt wenn ſie neuer iſt als das Geſetz, jede Kraft abgeſprochen werden, und dieſer Satz folgt nicht nur aus der richtigen Erklä- rung der angeführten Stelle des Codex, ſondern auch aus der Natur des Verhältniſſes eines einzelnen Theils des Staates zum Ganzen (o). So würde z. B. ein neues Wuchergeſetz allgemein angewendet werden müſſen, und keine partikuläre Gewohnheit, möchte ſie vor oder nach
(o) Vgl. die angeführte Beylage II.
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Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
wirklich ſolche Fälle vorgekommen ſind, und man dennoch
die Anwendung des Geſetzes unterlaſſen hat. Dann aber
iſt in der That kein Grund vorhanden, der wahren,
eigentlichen Gewohnheit jener Nichtanwendung weniger
Kraft gegen das Geſetz einzuräumen, als derjenigen
Gewohnheit, welche eine andere poſitive Regel anſtatt
des Geſetzes aufſtellt. Ja eigentlich kann man jede
desuetudo auch zugleich ſo auffaſſen, daß dadurch eine
andere Regel ſubſtituirt wird. Denn wenn z. B. das Ver-
bot der Zinſeszinſen für die laufenden Rechnungen des
Handelsſtandes abgeſchafft wird, ſo iſt das allerdings
zunächſt eine desuetndo; allein dieſe hat zugleich die Folge,
daß in ſolchen Fällen die allgemeinere Rechtsregel an-
wendbar wird, wodurch alle nicht beſonders verbotene
Zinsverträge für gültig erklärt werden.
Eine Modification der Wirkung tritt ein, wenn eine
partikuläre Gewohnheit entweder mit dem Staatsintereſſe,
oder mit einem abſoluten allgemeinen Landesgeſetz in Wi-
derſtreit iſt. Hier muß der Gewohnheit, ſelbſt wenn ſie
neuer iſt als das Geſetz, jede Kraft abgeſprochen werden,
und dieſer Satz folgt nicht nur aus der richtigen Erklä-
rung der angeführten Stelle des Codex, ſondern auch aus
der Natur des Verhältniſſes eines einzelnen Theils des
Staates zum Ganzen (o). So würde z. B. ein neues
Wuchergeſetz allgemein angewendet werden müſſen, und
keine partikuläre Gewohnheit, möchte ſie vor oder nach
(o) Vgl. die angeführte Beylage II.
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/252>, abgerufen am 16.02.2025.
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