Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.
§. 30. Ansichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortsetzung. Unser Rechtszustand ist ein künstlicher geworden; wir for-dern von dem Richter ein wissenschaftliches Rechtsstudium, über welches er sich durch bestimmte Prüfungen ausweisen muß, und dadurch wird seine Stellung eine ganz an- dere als die der alten Schöffen war. Diese legten bey jedem Rechtsstreit Zeugniß ab von dem im Volk lebenden Recht, dessen unmittelbares Bewußtseyn ihnen beywohnte wie allen Übrigen, nur vielleicht durch größere Übung reiner und vollständiger als Anderen. Indem wir von dem heutigen Richter auf einer Seite weit mehr for- dern, als von jenen gefordert wurde, müssen wir auf der anderen Seite unsere Forderungen herabstimmen. Er soll urtheilen mit Hülfe der nicht ohne Aufwand vieler Kräfte erworbenen Wissenschaft, daher können wir nicht erwar- ten, daß er auch durch das Leben im Volke ein unmit- telbares Rechtsbewußtseyn, gleich den alten Schöffen, erworben haben werde (h). Daraus folgt nun, daß unser heutiger Richter sich anders verhalten muß zu dem Theil des Rechts, welcher aus Gesetz oder Wissenschaft, anders zu dem, welcher aus Gewohnheitsrecht hervorgegangen (h) Theilweise gründet sich
diese Verschiedenheit allerdings auf den Umstand, daß wir ein fremdes Recht angenommen ha- ben, welches seiner Natur nach stets ein gelehrtes Studium nö- thig macht; dennoch wäre es ir- rig, hierin auch nur den Haupt- grund zu suchen. Die Engländer haben kein fremdes Recht, aber die Masse ihrer Parlamentsacte und Präjudicien ist so ungeheuer, daß die nothwendige Kenntniß derselben dem heutigen Engli- schen Richter, eben so wie bey uns das Studium des Römischen Rechts, einen' völlig verschiedenen Character von dem der alten Schöffen giebt. §. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung. Unſer Rechtszuſtand iſt ein künſtlicher geworden; wir for-dern von dem Richter ein wiſſenſchaftliches Rechtsſtudium, über welches er ſich durch beſtimmte Prüfungen ausweiſen muß, und dadurch wird ſeine Stellung eine ganz an- dere als die der alten Schöffen war. Dieſe legten bey jedem Rechtsſtreit Zeugniß ab von dem im Volk lebenden Recht, deſſen unmittelbares Bewußtſeyn ihnen beywohnte wie allen Übrigen, nur vielleicht durch größere Übung reiner und vollſtändiger als Anderen. Indem wir von dem heutigen Richter auf einer Seite weit mehr for- dern, als von jenen gefordert wurde, müſſen wir auf der anderen Seite unſere Forderungen herabſtimmen. Er ſoll urtheilen mit Hülfe der nicht ohne Aufwand vieler Kräfte erworbenen Wiſſenſchaft, daher können wir nicht erwar- ten, daß er auch durch das Leben im Volke ein unmit- telbares Rechtsbewußtſeyn, gleich den alten Schöffen, erworben haben werde (h). Daraus folgt nun, daß unſer heutiger Richter ſich anders verhalten muß zu dem Theil des Rechts, welcher aus Geſetz oder Wiſſenſchaft, anders zu dem, welcher aus Gewohnheitsrecht hervorgegangen (h) Theilweiſe gründet ſich
dieſe Verſchiedenheit allerdings auf den Umſtand, daß wir ein fremdes Recht angenommen ha- ben, welches ſeiner Natur nach ſtets ein gelehrtes Studium nö- thig macht; dennoch wäre es ir- rig, hierin auch nur den Haupt- grund zu ſuchen. Die Engländer haben kein fremdes Recht, aber die Maſſe ihrer Parlamentsacte und Präjudicien iſt ſo ungeheuer, daß die nothwendige Kenntniß derſelben dem heutigen Engli- ſchen Richter, eben ſo wie bey uns das Studium des Römiſchen Rechts, einen’ völlig verſchiedenen Character von dem der alten Schöffen giebt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0245" n="189"/><fw place="top" type="header">§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.</fw><lb/> Unſer Rechtszuſtand iſt ein künſtlicher geworden; wir for-<lb/> dern von dem Richter ein wiſſenſchaftliches Rechtsſtudium,<lb/> über welches er ſich durch beſtimmte Prüfungen ausweiſen<lb/> muß, und dadurch wird ſeine Stellung eine ganz an-<lb/> dere als die der alten Schöffen war. Dieſe legten<lb/> bey jedem Rechtsſtreit Zeugniß ab von dem im Volk<lb/> lebenden Recht, deſſen unmittelbares Bewußtſeyn ihnen<lb/> beywohnte wie allen Übrigen, nur vielleicht durch größere<lb/> Übung reiner und vollſtändiger als Anderen. Indem wir<lb/> von dem heutigen Richter auf einer Seite weit mehr for-<lb/> dern, als von jenen gefordert wurde, müſſen wir auf der<lb/> anderen Seite unſere Forderungen herabſtimmen. Er ſoll<lb/> urtheilen mit Hülfe der nicht ohne Aufwand vieler Kräfte<lb/> erworbenen Wiſſenſchaft, daher können wir nicht erwar-<lb/> ten, daß er auch durch das Leben im Volke ein unmit-<lb/> telbares Rechtsbewußtſeyn, gleich den alten Schöffen,<lb/> erworben haben werde <note place="foot" n="(h)">Theilweiſe gründet ſich<lb/> dieſe Verſchiedenheit allerdings<lb/> auf den Umſtand, daß wir ein<lb/> fremdes Recht angenommen ha-<lb/> ben, welches ſeiner Natur nach<lb/> ſtets ein gelehrtes Studium nö-<lb/> thig macht; dennoch wäre es ir-<lb/> rig, hierin auch nur den Haupt-<lb/> grund zu ſuchen. Die Engländer<lb/> haben kein fremdes Recht, aber<lb/> die Maſſe ihrer Parlamentsacte<lb/> und Präjudicien iſt ſo ungeheuer,<lb/> daß die nothwendige Kenntniß<lb/> derſelben dem heutigen Engli-<lb/> ſchen Richter, eben ſo wie bey<lb/> uns das Studium des Römiſchen<lb/> Rechts, einen’ völlig verſchiedenen<lb/> Character von dem der alten<lb/> Schöffen giebt.</note>. Daraus folgt nun, daß unſer<lb/> heutiger Richter ſich anders verhalten muß zu dem Theil<lb/> des Rechts, welcher aus Geſetz oder Wiſſenſchaft, anders<lb/> zu dem, welcher aus Gewohnheitsrecht hervorgegangen<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [189/0245]
§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.
Unſer Rechtszuſtand iſt ein künſtlicher geworden; wir for-
dern von dem Richter ein wiſſenſchaftliches Rechtsſtudium,
über welches er ſich durch beſtimmte Prüfungen ausweiſen
muß, und dadurch wird ſeine Stellung eine ganz an-
dere als die der alten Schöffen war. Dieſe legten
bey jedem Rechtsſtreit Zeugniß ab von dem im Volk
lebenden Recht, deſſen unmittelbares Bewußtſeyn ihnen
beywohnte wie allen Übrigen, nur vielleicht durch größere
Übung reiner und vollſtändiger als Anderen. Indem wir
von dem heutigen Richter auf einer Seite weit mehr for-
dern, als von jenen gefordert wurde, müſſen wir auf der
anderen Seite unſere Forderungen herabſtimmen. Er ſoll
urtheilen mit Hülfe der nicht ohne Aufwand vieler Kräfte
erworbenen Wiſſenſchaft, daher können wir nicht erwar-
ten, daß er auch durch das Leben im Volke ein unmit-
telbares Rechtsbewußtſeyn, gleich den alten Schöffen,
erworben haben werde (h). Daraus folgt nun, daß unſer
heutiger Richter ſich anders verhalten muß zu dem Theil
des Rechts, welcher aus Geſetz oder Wiſſenſchaft, anders
zu dem, welcher aus Gewohnheitsrecht hervorgegangen
(h) Theilweiſe gründet ſich
dieſe Verſchiedenheit allerdings
auf den Umſtand, daß wir ein
fremdes Recht angenommen ha-
ben, welches ſeiner Natur nach
ſtets ein gelehrtes Studium nö-
thig macht; dennoch wäre es ir-
rig, hierin auch nur den Haupt-
grund zu ſuchen. Die Engländer
haben kein fremdes Recht, aber
die Maſſe ihrer Parlamentsacte
und Präjudicien iſt ſo ungeheuer,
daß die nothwendige Kenntniß
derſelben dem heutigen Engli-
ſchen Richter, eben ſo wie bey
uns das Studium des Römiſchen
Rechts, einen’ völlig verſchiedenen
Character von dem der alten
Schöffen giebt.
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| Zitationshilfe: | Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/245>, abgerufen am 24.11.2024. |
