Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Vorrede.
auf uns einwirken soll, dann würden wir die unschätz-
barsten Güter entbehren, die von dem Wesen wahrer
Wissenschaft unzertrennlich sind: die Gemeinschaftlich-
keit wissenschaftlicher Überzeugungen, und daneben den
steten, lebendigen Fortschritt, ohne welchen jene Ge-
meinschaft in einen todten Buchstaben übergehen könnte.
Damit dieses nicht geschehe, müssen wir wünschen, daß
von Zeit zu Zeit das, was im Einzelnen gesucht und
gewonnen worden ist, in vereinigendem Bewußtseyn zu-
sammen gefaßt werde. Denn schon die gleichzeitig le-
benden Träger der Wissenschaft gehen oft in scharfen
Gegensätzen aus einander; noch stärker aber treten diese
Gegensätze hervor, wenn wir ganze Zeitalter verglei-
chend betrachten. Hier gilt es nun nicht, das Eine zu
wählen, das Andere zu verwerfen; vielmehr geht die
Aufgabe dahin, die wahrgenommenen Gegensätze in
höherer Einheit aufzulösen, welches der einzige Weg zu
sicherem Fortschritt in der Wissenschaft ist. Die ange-
messene Stimmung für eine solche zusammen fassende
Arbeit ist die der Ehrerbietung gegen das Große, wel-
ches uns in den Leistungen unsrer Vorgänger erscheint.
Damit aber diese Ehrerbietung nicht in beschränkende
Einseitigkeit ausarte, und so die Freyheit des Denkens
gefährde, ist es nöthig, den Blick unverwandt auf das

Vorrede.
auf uns einwirken ſoll, dann würden wir die unſchätz-
barſten Güter entbehren, die von dem Weſen wahrer
Wiſſenſchaft unzertrennlich ſind: die Gemeinſchaftlich-
keit wiſſenſchaftlicher Überzeugungen, und daneben den
ſteten, lebendigen Fortſchritt, ohne welchen jene Ge-
meinſchaft in einen todten Buchſtaben übergehen könnte.
Damit dieſes nicht geſchehe, müſſen wir wünſchen, daß
von Zeit zu Zeit das, was im Einzelnen geſucht und
gewonnen worden iſt, in vereinigendem Bewußtſeyn zu-
ſammen gefaßt werde. Denn ſchon die gleichzeitig le-
benden Träger der Wiſſenſchaft gehen oft in ſcharfen
Gegenſätzen aus einander; noch ſtärker aber treten dieſe
Gegenſätze hervor, wenn wir ganze Zeitalter verglei-
chend betrachten. Hier gilt es nun nicht, das Eine zu
wählen, das Andere zu verwerfen; vielmehr geht die
Aufgabe dahin, die wahrgenommenen Gegenſätze in
höherer Einheit aufzulöſen, welches der einzige Weg zu
ſicherem Fortſchritt in der Wiſſenſchaft iſt. Die ange-
meſſene Stimmung für eine ſolche zuſammen faſſende
Arbeit iſt die der Ehrerbietung gegen das Große, wel-
ches uns in den Leiſtungen unſrer Vorgänger erſcheint.
Damit aber dieſe Ehrerbietung nicht in beſchränkende
Einſeitigkeit ausarte, und ſo die Freyheit des Denkens
gefährde, iſt es nöthig, den Blick unverwandt auf das

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0016" n="X"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Vorrede</hi>.</fw><lb/>
auf uns einwirken &#x017F;oll, dann würden wir die un&#x017F;chätz-<lb/>
bar&#x017F;ten Güter entbehren, die von dem We&#x017F;en wahrer<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft unzertrennlich &#x017F;ind: die Gemein&#x017F;chaftlich-<lb/>
keit wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlicher Überzeugungen, und daneben den<lb/>
&#x017F;teten, lebendigen Fort&#x017F;chritt, ohne welchen jene Ge-<lb/>
mein&#x017F;chaft in einen todten Buch&#x017F;taben übergehen könnte.<lb/>
Damit die&#x017F;es nicht ge&#x017F;chehe, mü&#x017F;&#x017F;en wir wün&#x017F;chen, daß<lb/>
von Zeit zu Zeit das, was im Einzelnen ge&#x017F;ucht und<lb/>
gewonnen worden i&#x017F;t, in vereinigendem Bewußt&#x017F;eyn zu-<lb/>
&#x017F;ammen gefaßt werde. Denn &#x017F;chon die gleichzeitig le-<lb/>
benden Träger der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft gehen oft in &#x017F;charfen<lb/>
Gegen&#x017F;ätzen aus einander; noch &#x017F;tärker aber treten die&#x017F;e<lb/>
Gegen&#x017F;ätze hervor, wenn wir ganze Zeitalter verglei-<lb/>
chend betrachten. Hier gilt es nun nicht, das Eine zu<lb/>
wählen, das Andere zu verwerfen; vielmehr geht die<lb/>
Aufgabe dahin, die wahrgenommenen Gegen&#x017F;ätze in<lb/>
höherer Einheit aufzulö&#x017F;en, welches der einzige Weg zu<lb/>
&#x017F;icherem Fort&#x017F;chritt in der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft i&#x017F;t. Die ange-<lb/>
me&#x017F;&#x017F;ene Stimmung für eine &#x017F;olche zu&#x017F;ammen fa&#x017F;&#x017F;ende<lb/>
Arbeit i&#x017F;t die der Ehrerbietung gegen das Große, wel-<lb/>
ches uns in den Lei&#x017F;tungen un&#x017F;rer Vorgänger er&#x017F;cheint.<lb/>
Damit aber die&#x017F;e Ehrerbietung nicht in be&#x017F;chränkende<lb/>
Ein&#x017F;eitigkeit ausarte, und &#x017F;o die Freyheit des Denkens<lb/>
gefährde, i&#x017F;t es nöthig, den Blick unverwandt auf das<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[X/0016] Vorrede. auf uns einwirken ſoll, dann würden wir die unſchätz- barſten Güter entbehren, die von dem Weſen wahrer Wiſſenſchaft unzertrennlich ſind: die Gemeinſchaftlich- keit wiſſenſchaftlicher Überzeugungen, und daneben den ſteten, lebendigen Fortſchritt, ohne welchen jene Ge- meinſchaft in einen todten Buchſtaben übergehen könnte. Damit dieſes nicht geſchehe, müſſen wir wünſchen, daß von Zeit zu Zeit das, was im Einzelnen geſucht und gewonnen worden iſt, in vereinigendem Bewußtſeyn zu- ſammen gefaßt werde. Denn ſchon die gleichzeitig le- benden Träger der Wiſſenſchaft gehen oft in ſcharfen Gegenſätzen aus einander; noch ſtärker aber treten dieſe Gegenſätze hervor, wenn wir ganze Zeitalter verglei- chend betrachten. Hier gilt es nun nicht, das Eine zu wählen, das Andere zu verwerfen; vielmehr geht die Aufgabe dahin, die wahrgenommenen Gegenſätze in höherer Einheit aufzulöſen, welches der einzige Weg zu ſicherem Fortſchritt in der Wiſſenſchaft iſt. Die ange- meſſene Stimmung für eine ſolche zuſammen faſſende Arbeit iſt die der Ehrerbietung gegen das Große, wel- ches uns in den Leiſtungen unſrer Vorgänger erſcheint. Damit aber dieſe Ehrerbietung nicht in beſchränkende Einſeitigkeit ausarte, und ſo die Freyheit des Denkens gefährde, iſt es nöthig, den Blick unverwandt auf das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/16
Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. X. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/16>, abgerufen am 20.04.2024.