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Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.

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Ueber den Charakter Jesu Christi.
er nicht. Er hatte eine dürftige Mutter, die, weil die
Familie, die ehemals auf dem Thron gesessen war,
durch die Länge der Zeit, und durch die traurigen Schick-
sale, die das ganze Volk getroffen hatten, sehr herabge-
kommen war, ihre vornehme Herkunft in der Handwerks-
stube eines gemeinen Mannes vergessen mußte; aber er
schämte sich dieser armen Mutter nicht. Er kannte viele
Spiele, viele Ergötzungen, viele Bequemlichkeiten, die
die Reichen genießen können, kaum dem Namen nach.
Man konnte ihm Weisheit und Einsicht nicht abspre-
chen, aber er war gar natürlich, gar ungekünstelt in al-
len seinen Sachen. So, daß ihn jeder verstehen konnte,
brachte er alles vor. Aus dem gemeinen Leben nahm er
immer Anlaß und Erläuterungen zu dem, was er sagte.
Bis auf die natürlichsten Grundsätze und Denkungsar-
ten der Menschen wußte er alles zurückzuführen. Ge-
meiniglich lehrte er durch lauter Empfindungen, die er
nur rege zu machen brauchte. Für ihn, und seine Be-
hauptungen sprach immer bey jedem, der ihn hörte, das
Herz selber. Er führte seine Freunde von der Erde gen
Himmel, von den Menschen zu Gott, ohne daß man den
Weg merkte. Man vertraute sich ihm gerne an, er wußte
mit jedem nach seiner Art, zu reden und zu handeln, um-
zugehen, er setzte sich gleich in die ganze Lage des andern,
sah mitleidig auf seine Bedürfnisse herab, und fand im-
mer eine Seite, wo er ihm beykommen, das Herz be-
wegen, die Aufmerksamkeit gewinnen, und ein Verlangen
nach näherem und längerem Umgang mit ihm erwecken
konnte. Gelehrte Streitigkeiten, unnütze Sylbensteche-
reyen, Grübeleyen, die keinen Einfluß ins Menschenle-
ben haben, waren seine Sache nicht. Seine Tugend

schim-

Ueber den Charakter Jeſu Chriſti.
er nicht. Er hatte eine dürftige Mutter, die, weil die
Familie, die ehemals auf dem Thron geſeſſen war,
durch die Länge der Zeit, und durch die traurigen Schick-
ſale, die das ganze Volk getroffen hatten, ſehr herabge-
kommen war, ihre vornehme Herkunft in der Handwerks-
ſtube eines gemeinen Mannes vergeſſen mußte; aber er
ſchämte ſich dieſer armen Mutter nicht. Er kannte viele
Spiele, viele Ergötzungen, viele Bequemlichkeiten, die
die Reichen genießen können, kaum dem Namen nach.
Man konnte ihm Weisheit und Einſicht nicht abſpre-
chen, aber er war gar natürlich, gar ungekünſtelt in al-
len ſeinen Sachen. So, daß ihn jeder verſtehen konnte,
brachte er alles vor. Aus dem gemeinen Leben nahm er
immer Anlaß und Erläuterungen zu dem, was er ſagte.
Bis auf die natürlichſten Grundſätze und Denkungsar-
ten der Menſchen wußte er alles zurückzuführen. Ge-
meiniglich lehrte er durch lauter Empfindungen, die er
nur rege zu machen brauchte. Für ihn, und ſeine Be-
hauptungen ſprach immer bey jedem, der ihn hörte, das
Herz ſelber. Er führte ſeine Freunde von der Erde gen
Himmel, von den Menſchen zu Gott, ohne daß man den
Weg merkte. Man vertraute ſich ihm gerne an, er wußte
mit jedem nach ſeiner Art, zu reden und zu handeln, um-
zugehen, er ſetzte ſich gleich in die ganze Lage des andern,
ſah mitleidig auf ſeine Bedürfniſſe herab, und fand im-
mer eine Seite, wo er ihm beykommen, das Herz be-
wegen, die Aufmerkſamkeit gewinnen, und ein Verlangen
nach näherem und längerem Umgang mit ihm erwecken
konnte. Gelehrte Streitigkeiten, unnütze Sylbenſteche-
reyen, Grübeleyen, die keinen Einfluß ins Menſchenle-
ben haben, waren ſeine Sache nicht. Seine Tugend

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[47/0053] Ueber den Charakter Jeſu Chriſti. er nicht. Er hatte eine dürftige Mutter, die, weil die Familie, die ehemals auf dem Thron geſeſſen war, durch die Länge der Zeit, und durch die traurigen Schick- ſale, die das ganze Volk getroffen hatten, ſehr herabge- kommen war, ihre vornehme Herkunft in der Handwerks- ſtube eines gemeinen Mannes vergeſſen mußte; aber er ſchämte ſich dieſer armen Mutter nicht. Er kannte viele Spiele, viele Ergötzungen, viele Bequemlichkeiten, die die Reichen genießen können, kaum dem Namen nach. Man konnte ihm Weisheit und Einſicht nicht abſpre- chen, aber er war gar natürlich, gar ungekünſtelt in al- len ſeinen Sachen. So, daß ihn jeder verſtehen konnte, brachte er alles vor. Aus dem gemeinen Leben nahm er immer Anlaß und Erläuterungen zu dem, was er ſagte. Bis auf die natürlichſten Grundſätze und Denkungsar- ten der Menſchen wußte er alles zurückzuführen. Ge- meiniglich lehrte er durch lauter Empfindungen, die er nur rege zu machen brauchte. Für ihn, und ſeine Be- hauptungen ſprach immer bey jedem, der ihn hörte, das Herz ſelber. Er führte ſeine Freunde von der Erde gen Himmel, von den Menſchen zu Gott, ohne daß man den Weg merkte. Man vertraute ſich ihm gerne an, er wußte mit jedem nach ſeiner Art, zu reden und zu handeln, um- zugehen, er ſetzte ſich gleich in die ganze Lage des andern, ſah mitleidig auf ſeine Bedürfniſſe herab, und fand im- mer eine Seite, wo er ihm beykommen, das Herz be- wegen, die Aufmerkſamkeit gewinnen, und ein Verlangen nach näherem und längerem Umgang mit ihm erwecken konnte. Gelehrte Streitigkeiten, unnütze Sylbenſteche- reyen, Grübeleyen, die keinen Einfluß ins Menſchenle- ben haben, waren ſeine Sache nicht. Seine Tugend ſchim-

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Zitationshilfe: Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/53>, abgerufen am 25.11.2024.