Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.Gleichmüthigkeit des Erlösers. unsre schwache Seiten so gut verstehen, als Er? Oderwollen wir von ihm fodern, daß er nur uns lieben, nur uns Gutes thun, uns mit den Freuden dieses Lebens über- häufen, und wie die grausame Barmherzigkeit, wie die blinde Zärtlichkeit mancher Aeltern, andre schmachten lassen soll? Was heißt das anders, als dem höchsten Wesen die Thorheiten und Schwachheiten der Menschen zumuthen? Was anders, als von Gott verlangen, daß er eben die Unterscheidung machen, die vielen kleinen Um- stände auch erwägen soll, die die Menschen beobachten, wenn sie Wohlthaten austheilen? Was ist das anders, als ein Vorwurf, daß Gottes Weisheit und unendlicher Verstand, zu schwach sey, seine Welt in Ordnung zu er- halten, daß er unsre Einsicht erst zu Hülfe nehmen, un- sern Rath einholen, unsre Vorschläge anhören soll? Wir beklagen uns, daß Gott nicht gegen alle gleiche Freygebigkeit beweise. Wir nennen das einen Flecken in der Regierung Gottes, eine Unvollkommenheit, einen Uebelstand in der Welt; aber in der That misfällt uns die Sache selbst nicht. Wir werden nur erzürnt, wenn das größere Maas von Gütern uns nicht zufällt, wir wollen nur, daß die göttliche Barmherzigkeit sich zu uns wenden, und uns Ströme, Ueberfluß, Freude, Vorzug und Glück zukommen lasse. Aber wie wenig Weisheit und Vernunft ist in dieser Forderung! Geist des Men- schen! du erscheinst nie kleiner, als wenn du die Wege des Höchsten tadelst, und mit kühnen Schritten in die verborgenen Rathschlüsse Gottes eindringen willst. Gott ist Herr, Schöpfer, Vater und Erhalter aller Welttheile, aller Länder, aller Familien, aller Menschen. Muß er nicht für die entferntesten Zeiten, wie für die gegenwärtige sorgen?
Gleichmüthigkeit des Erlöſers. unſre ſchwache Seiten ſo gut verſtehen, als Er? Oderwollen wir von ihm fodern, daß er nur uns lieben, nur uns Gutes thun, uns mit den Freuden dieſes Lebens über- häufen, und wie die grauſame Barmherzigkeit, wie die blinde Zärtlichkeit mancher Aeltern, andre ſchmachten laſſen ſoll? Was heißt das anders, als dem höchſten Weſen die Thorheiten und Schwachheiten der Menſchen zumuthen? Was anders, als von Gott verlangen, daß er eben die Unterſcheidung machen, die vielen kleinen Um- ſtände auch erwägen ſoll, die die Menſchen beobachten, wenn ſie Wohlthaten austheilen? Was iſt das anders, als ein Vorwurf, daß Gottes Weisheit und unendlicher Verſtand, zu ſchwach ſey, ſeine Welt in Ordnung zu er- halten, daß er unſre Einſicht erſt zu Hülfe nehmen, un- ſern Rath einholen, unſre Vorſchläge anhören ſoll? Wir beklagen uns, daß Gott nicht gegen alle gleiche Freygebigkeit beweiſe. Wir nennen das einen Flecken in der Regierung Gottes, eine Unvollkommenheit, einen Uebelſtand in der Welt; aber in der That misfällt uns die Sache ſelbſt nicht. Wir werden nur erzürnt, wenn das größere Maas von Gütern uns nicht zufällt, wir wollen nur, daß die göttliche Barmherzigkeit ſich zu uns wenden, und uns Ströme, Ueberfluß, Freude, Vorzug und Glück zukommen laſſe. Aber wie wenig Weisheit und Vernunft iſt in dieſer Forderung! Geiſt des Men- ſchen! du erſcheinſt nie kleiner, als wenn du die Wege des Höchſten tadelſt, und mit kühnen Schritten in die verborgenen Rathſchlüſſe Gottes eindringen willſt. Gott iſt Herr, Schöpfer, Vater und Erhalter aller Welttheile, aller Länder, aller Familien, aller Menſchen. Muß er nicht für die entfernteſten Zeiten, wie für die gegenwärtige ſorgen?
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Gleichmüthigkeit des Erlöſers.
unſre ſchwache Seiten ſo gut verſtehen, als Er? Oder
wollen wir von ihm fodern, daß er nur uns lieben, nur
uns Gutes thun, uns mit den Freuden dieſes Lebens über-
häufen, und wie die grauſame Barmherzigkeit, wie die
blinde Zärtlichkeit mancher Aeltern, andre ſchmachten
laſſen ſoll? Was heißt das anders, als dem höchſten
Weſen die Thorheiten und Schwachheiten der Menſchen
zumuthen? Was anders, als von Gott verlangen, daß
er eben die Unterſcheidung machen, die vielen kleinen Um-
ſtände auch erwägen ſoll, die die Menſchen beobachten,
wenn ſie Wohlthaten austheilen? Was iſt das anders,
als ein Vorwurf, daß Gottes Weisheit und unendlicher
Verſtand, zu ſchwach ſey, ſeine Welt in Ordnung zu er-
halten, daß er unſre Einſicht erſt zu Hülfe nehmen, un-
ſern Rath einholen, unſre Vorſchläge anhören ſoll?
Wir beklagen uns, daß Gott nicht gegen alle gleiche
Freygebigkeit beweiſe. Wir nennen das einen Flecken
in der Regierung Gottes, eine Unvollkommenheit, einen
Uebelſtand in der Welt; aber in der That misfällt uns
die Sache ſelbſt nicht. Wir werden nur erzürnt, wenn
das größere Maas von Gütern uns nicht zufällt, wir
wollen nur, daß die göttliche Barmherzigkeit ſich zu uns
wenden, und uns Ströme, Ueberfluß, Freude, Vorzug
und Glück zukommen laſſe. Aber wie wenig Weisheit
und Vernunft iſt in dieſer Forderung! Geiſt des Men-
ſchen! du erſcheinſt nie kleiner, als wenn du die Wege
des Höchſten tadelſt, und mit kühnen Schritten in die
verborgenen Rathſchlüſſe Gottes eindringen willſt. Gott
iſt Herr, Schöpfer, Vater und Erhalter aller Welttheile,
aller Länder, aller Familien, aller Menſchen. Muß er
nicht für die entfernteſten Zeiten, wie für die gegenwärtige
ſorgen?
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