sterbe das göttliche Geschlecht derer, die dir durch Liebe ähnlich werden, und dein Bild auf Erden sind.
Unser Erlöser predigte diese Pflicht besonders dem Volk, unter welchem er sichtbar wandelte. Der Jude liebte gemeiniglich nur seine Landsleute, und seine Glau- bensgenossen. Die Vorrechte, die ihnen die höchste Güte Gottes geschenkt hatte, machten sie so stolz, daß sie alle andre Menschen neben sich, als unheilige, unwürdige, und verabscheuungswerthe Geschöpfe ansahen. Ein Heide war ordentlicher Weise in den Augen des Beschnit- tenen ein Mensch, der an keine Gnade Gottes Anspruch machen konnte, dem die ewigen Strafen gewiß bestimmt waren, der von dem Lieblingsvolk Gottes keine Billig- keit im Handel und Wandel, keine Gerechtigkeit, vor Gericht kein Recht, im gemeinen Leben keine Liebe, keine Sanftmuth, keine Verträglichkeit, und im Unglück we- der Mitleiden noch Unterstützung erwarten, oder gar for- dern konnte. Jn der alten Welt war fast zwischen al- len Nationen ein unversöhnlicher Haß. Jede wollte die erste, die ältete, die wichtigste auf dem ganzen Erd- boden seyn. Ein Volk, das mächtig und stark geworden war, griff, wie ein Raubthier, um sich, verschlang von den kleineren Staaten, so viel als es konnte, und legte ihnen das Joch der Dienstbarkeit auf. Mehrere Ursa- chen zusammengenommen brachten die Sklaverey, die Leibeigenschaft auf, und viele tausend Menschen verloh- ren, weil sie arm waren, weil ihre Väter schon im Elend und in den abscheulichsten Kerkern geschmachtet hatten, gleich bey der Geburt alle natürliche Rechte der Mensch- heit, wurden mit dem Lastvieh in eine Classe gesetzt, und
mußten
Menſchenliebe des Erlöſers.
ſterbe das göttliche Geſchlecht derer, die dir durch Liebe ähnlich werden, und dein Bild auf Erden ſind.
Unſer Erlöſer predigte dieſe Pflicht beſonders dem Volk, unter welchem er ſichtbar wandelte. Der Jude liebte gemeiniglich nur ſeine Landsleute, und ſeine Glau- bensgenoſſen. Die Vorrechte, die ihnen die höchſte Güte Gottes geſchenkt hatte, machten ſie ſo ſtolz, daß ſie alle andre Menſchen neben ſich, als unheilige, unwürdige, und verabſcheuungswerthe Geſchöpfe anſahen. Ein Heide war ordentlicher Weiſe in den Augen des Beſchnit- tenen ein Menſch, der an keine Gnade Gottes Anſpruch machen konnte, dem die ewigen Strafen gewiß beſtimmt waren, der von dem Lieblingsvolk Gottes keine Billig- keit im Handel und Wandel, keine Gerechtigkeit, vor Gericht kein Recht, im gemeinen Leben keine Liebe, keine Sanftmuth, keine Verträglichkeit, und im Unglück we- der Mitleiden noch Unterſtützung erwarten, oder gar for- dern konnte. Jn der alten Welt war faſt zwiſchen al- len Nationen ein unverſöhnlicher Haß. Jede wollte die erſte, die ältete, die wichtigſte auf dem ganzen Erd- boden ſeyn. Ein Volk, das mächtig und ſtark geworden war, griff, wie ein Raubthier, um ſich, verſchlang von den kleineren Staaten, ſo viel als es konnte, und legte ihnen das Joch der Dienſtbarkeit auf. Mehrere Urſa- chen zuſammengenommen brachten die Sklaverey, die Leibeigenſchaft auf, und viele tauſend Menſchen verloh- ren, weil ſie arm waren, weil ihre Väter ſchon im Elend und in den abſcheulichſten Kerkern geſchmachtet hatten, gleich bey der Geburt alle natürliche Rechte der Menſch- heit, wurden mit dem Laſtvieh in eine Claſſe geſetzt, und
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Menſchenliebe des Erlöſers.
ſterbe das göttliche Geſchlecht derer, die dir durch Liebe
ähnlich werden, und dein Bild auf Erden ſind.
Unſer Erlöſer predigte dieſe Pflicht beſonders dem
Volk, unter welchem er ſichtbar wandelte. Der Jude
liebte gemeiniglich nur ſeine Landsleute, und ſeine Glau-
bensgenoſſen. Die Vorrechte, die ihnen die höchſte Güte
Gottes geſchenkt hatte, machten ſie ſo ſtolz, daß ſie alle
andre Menſchen neben ſich, als unheilige, unwürdige,
und verabſcheuungswerthe Geſchöpfe anſahen. Ein
Heide war ordentlicher Weiſe in den Augen des Beſchnit-
tenen ein Menſch, der an keine Gnade Gottes Anſpruch
machen konnte, dem die ewigen Strafen gewiß beſtimmt
waren, der von dem Lieblingsvolk Gottes keine Billig-
keit im Handel und Wandel, keine Gerechtigkeit, vor
Gericht kein Recht, im gemeinen Leben keine Liebe, keine
Sanftmuth, keine Verträglichkeit, und im Unglück we-
der Mitleiden noch Unterſtützung erwarten, oder gar for-
dern konnte. Jn der alten Welt war faſt zwiſchen al-
len Nationen ein unverſöhnlicher Haß. Jede wollte die
erſte, die ältete, die wichtigſte auf dem ganzen Erd-
boden ſeyn. Ein Volk, das mächtig und ſtark geworden
war, griff, wie ein Raubthier, um ſich, verſchlang von
den kleineren Staaten, ſo viel als es konnte, und legte
ihnen das Joch der Dienſtbarkeit auf. Mehrere Urſa-
chen zuſammengenommen brachten die Sklaverey, die
Leibeigenſchaft auf, und viele tauſend Menſchen verloh-
ren, weil ſie arm waren, weil ihre Väter ſchon im Elend
und in den abſcheulichſten Kerkern geſchmachtet hatten,
gleich bey der Geburt alle natürliche Rechte der Menſch-
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Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/146>, abgerufen am 24.06.2024.
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