nehmen zwang; erst nachdem man sich an die Waffe gewöhnt hatte, wagte man bis auf drei Glieder herunter zu gehen, aber wohl erst Friedrich II war es, der das Infanteriefeuer im wesentlichen zur Entscheidung der Schlachten zu benutzen versuchte. Noch war das Steinschloß mit der offenen, durch Feuchtigkeit leicht unbrauchbar wer- denden Zündpfanne ein großes Hindernis für den Gebrauch der Waffe, und erst die unserem Jahrhundert angehörende Erfindung des Per- kussionsschlosses mit der durch den Schlag des Hahns explodierenden und die Ladung entzündenden Zündmasse machte die Handgewehre zu allgemein brauchbaren Waffen. Das war im Anfange des Jahrhunderts. Und nun begann jene rapide Entwicklung der Gewehre, welche heute die- selben auf eine Höhe der Vollkommenheit gebracht hat, die man vor 50 Jahren nicht ahnen konnte. Dadurch, daß man den Lauf mit Zügen versah und die bis dahin gebrauchte Kugel durch das Lang- bleigeschoß ersetzte, erhöhte man die Trefffähigkeit bedentend. In den fünfziger Jahren erfolgte sodann in Preußen die Einführung des Dreyseschen Zündnadelgewehres, des ersten Hinterladers seit 1360, wo man diese Waffen schon kannte. Das ungeheure Übergewicht der Hinterladungsgewehre, welches sich in den Kriegen von 1864 und 1866 in so in die Augen springender Weise bemerkbar machte, bewirkte die von allen Staaten mit fieberhafter Eile betriebene Einführung der ver- schiedensten Konstruktionen von Hinterladern, unter denen sich besonders das französische Chassepotgewehr im Kriege von 1870 dem Zündnadel- gewehr zwar nicht in der Trefffähigkeit, um so mehr aber in der Trag- weite und Feuergeschwindigkeit weit überlegen zeigte. Die politische Lage seit 1870 hat natürlich nicht dazu beigetragen, einen Ruhepunkt für die Gewehrtechnik herbeizuführen; was der eine Staat eben ein- führte, wurde von dem anderen nachgeahmt, ja womöglich übertroffen. So hat denn erst die neueste Zeit wieder einen Fortschritt auf diesem Gebiete zu verzeichnen, so einschneidend und epochemachend, wie seit der Erfindung des Pulvers kein anderer erlebt wurde; wir meinen die Ein- führung der Magazingewehre und des rauchlosen Pulvers.
Um zu begreifen, wie es geschehen konnte, daß man das durch die Praxis von Jahrhunderten eingeführte Triebmittel für den Gewehr- schuß so leicht und plötzlich fallen ließ, muß man die beiden Ziele kennen, auf welche, abgesehen von der Feuergeschwindigkeit, die Kriegs- technik seit der Mitte unseres Jahrhunderts hindrängte; wir meinen die Vergrößerung der Tragweite und der "Rasanz", d. h. der Streckung der Geschoßbahn. Besonders der letztgenannte Punkt war wichtig, weil jedes Gewehr erfahrungsmäßig um so präziser schießt, je weniger gekrümmt, je rasanter die Flugbahn ist. Beide Ziele sind nur erreichbar, indem man zwischen Geschoßmasse und Anfangsgeschwindigkeit das richtige Verhältnis zu treffen sucht. Verkleinert man nun das Geschoß, so wird die Luft diesem weniger Widerstand bieten und die Forderung
Das Schießpulver.
nehmen zwang; erſt nachdem man ſich an die Waffe gewöhnt hatte, wagte man bis auf drei Glieder herunter zu gehen, aber wohl erſt Friedrich II war es, der das Infanteriefeuer im weſentlichen zur Entſcheidung der Schlachten zu benutzen verſuchte. Noch war das Steinſchloß mit der offenen, durch Feuchtigkeit leicht unbrauchbar wer- denden Zündpfanne ein großes Hindernis für den Gebrauch der Waffe, und erſt die unſerem Jahrhundert angehörende Erfindung des Per- kuſſionsſchloſſes mit der durch den Schlag des Hahns explodierenden und die Ladung entzündenden Zündmaſſe machte die Handgewehre zu allgemein brauchbaren Waffen. Das war im Anfange des Jahrhunderts. Und nun begann jene rapide Entwicklung der Gewehre, welche heute die- ſelben auf eine Höhe der Vollkommenheit gebracht hat, die man vor 50 Jahren nicht ahnen konnte. Dadurch, daß man den Lauf mit Zügen verſah und die bis dahin gebrauchte Kugel durch das Lang- bleigeſchoß erſetzte, erhöhte man die Trefffähigkeit bedentend. In den fünfziger Jahren erfolgte ſodann in Preußen die Einführung des Dreyſeſchen Zündnadelgewehres, des erſten Hinterladers ſeit 1360, wo man dieſe Waffen ſchon kannte. Das ungeheure Übergewicht der Hinterladungsgewehre, welches ſich in den Kriegen von 1864 und 1866 in ſo in die Augen ſpringender Weiſe bemerkbar machte, bewirkte die von allen Staaten mit fieberhafter Eile betriebene Einführung der ver- ſchiedenſten Konſtruktionen von Hinterladern, unter denen ſich beſonders das franzöſiſche Chaſſepotgewehr im Kriege von 1870 dem Zündnadel- gewehr zwar nicht in der Trefffähigkeit, um ſo mehr aber in der Trag- weite und Feuergeſchwindigkeit weit überlegen zeigte. Die politiſche Lage ſeit 1870 hat natürlich nicht dazu beigetragen, einen Ruhepunkt für die Gewehrtechnik herbeizuführen; was der eine Staat eben ein- führte, wurde von dem anderen nachgeahmt, ja womöglich übertroffen. So hat denn erſt die neueſte Zeit wieder einen Fortſchritt auf dieſem Gebiete zu verzeichnen, ſo einſchneidend und epochemachend, wie ſeit der Erfindung des Pulvers kein anderer erlebt wurde; wir meinen die Ein- führung der Magazingewehre und des rauchloſen Pulvers.
Um zu begreifen, wie es geſchehen konnte, daß man das durch die Praxis von Jahrhunderten eingeführte Triebmittel für den Gewehr- ſchuß ſo leicht und plötzlich fallen ließ, muß man die beiden Ziele kennen, auf welche, abgeſehen von der Feuergeſchwindigkeit, die Kriegs- technik ſeit der Mitte unſeres Jahrhunderts hindrängte; wir meinen die Vergrößerung der Tragweite und der „Raſanz“, d. h. der Streckung der Geſchoßbahn. Beſonders der letztgenannte Punkt war wichtig, weil jedes Gewehr erfahrungsmäßig um ſo präziſer ſchießt, je weniger gekrümmt, je raſanter die Flugbahn iſt. Beide Ziele ſind nur erreichbar, indem man zwiſchen Geſchoßmaſſe und Anfangsgeſchwindigkeit das richtige Verhältnis zu treffen ſucht. Verkleinert man nun das Geſchoß, ſo wird die Luft dieſem weniger Widerſtand bieten und die Forderung
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[703/0721]
Das Schießpulver.
nehmen zwang; erſt nachdem man ſich an die Waffe gewöhnt hatte,
wagte man bis auf drei Glieder herunter zu gehen, aber wohl erſt
Friedrich II war es, der das Infanteriefeuer im weſentlichen zur
Entſcheidung der Schlachten zu benutzen verſuchte. Noch war das
Steinſchloß mit der offenen, durch Feuchtigkeit leicht unbrauchbar wer-
denden Zündpfanne ein großes Hindernis für den Gebrauch der Waffe,
und erſt die unſerem Jahrhundert angehörende Erfindung des Per-
kuſſionsſchloſſes mit der durch den Schlag des Hahns explodierenden und die
Ladung entzündenden Zündmaſſe machte die Handgewehre zu allgemein
brauchbaren Waffen. Das war im Anfange des Jahrhunderts. Und
nun begann jene rapide Entwicklung der Gewehre, welche heute die-
ſelben auf eine Höhe der Vollkommenheit gebracht hat, die man vor
50 Jahren nicht ahnen konnte. Dadurch, daß man den Lauf mit
Zügen verſah und die bis dahin gebrauchte Kugel durch das Lang-
bleigeſchoß erſetzte, erhöhte man die Trefffähigkeit bedentend. In den
fünfziger Jahren erfolgte ſodann in Preußen die Einführung des
Dreyſeſchen Zündnadelgewehres, des erſten Hinterladers ſeit 1360, wo
man dieſe Waffen ſchon kannte. Das ungeheure Übergewicht der
Hinterladungsgewehre, welches ſich in den Kriegen von 1864 und 1866
in ſo in die Augen ſpringender Weiſe bemerkbar machte, bewirkte die
von allen Staaten mit fieberhafter Eile betriebene Einführung der ver-
ſchiedenſten Konſtruktionen von Hinterladern, unter denen ſich beſonders
das franzöſiſche Chaſſepotgewehr im Kriege von 1870 dem Zündnadel-
gewehr zwar nicht in der Trefffähigkeit, um ſo mehr aber in der Trag-
weite und Feuergeſchwindigkeit weit überlegen zeigte. Die politiſche
Lage ſeit 1870 hat natürlich nicht dazu beigetragen, einen Ruhepunkt
für die Gewehrtechnik herbeizuführen; was der eine Staat eben ein-
führte, wurde von dem anderen nachgeahmt, ja womöglich übertroffen.
So hat denn erſt die neueſte Zeit wieder einen Fortſchritt auf dieſem
Gebiete zu verzeichnen, ſo einſchneidend und epochemachend, wie ſeit der
Erfindung des Pulvers kein anderer erlebt wurde; wir meinen die Ein-
führung der Magazingewehre und des rauchloſen Pulvers.
Um zu begreifen, wie es geſchehen konnte, daß man das durch
die Praxis von Jahrhunderten eingeführte Triebmittel für den Gewehr-
ſchuß ſo leicht und plötzlich fallen ließ, muß man die beiden Ziele
kennen, auf welche, abgeſehen von der Feuergeſchwindigkeit, die Kriegs-
technik ſeit der Mitte unſeres Jahrhunderts hindrängte; wir meinen die
Vergrößerung der Tragweite und der „Raſanz“, d. h. der Streckung der
Geſchoßbahn. Beſonders der letztgenannte Punkt war wichtig, weil jedes
Gewehr erfahrungsmäßig um ſo präziſer ſchießt, je weniger gekrümmt,
je raſanter die Flugbahn iſt. Beide Ziele ſind nur erreichbar, indem
man zwiſchen Geſchoßmaſſe und Anfangsgeſchwindigkeit das richtige
Verhältnis zu treffen ſucht. Verkleinert man nun das Geſchoß, ſo
wird die Luft dieſem weniger Widerſtand bieten und die Forderung
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Samter, Heinrich: Das Reich der Erfindungen. Berlin, 1896, S. 703. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/samter_erfindungen_1896/721>, abgerufen am 16.06.2024.
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