Spricht man von Seidenspinnereien, so versteht man darunter vielfach diejenigen Anstalten, welche sich mit dem Abhaspeln der Cocons und der Verarbeitung der Fäden zu Rohseide, Grege, befassen, obgleich eine Spinnerei im eigentlichen Sinne wegen des fertig auf dem Cocon befind- lichen Fadens nicht erforderlich ist. Doch hat sich das so eingebürgert. Streng genommen sollte die Bezeichnung Seidenspinnerei nur denjenigen fabrikativen Etablissements zukommen, die die Floret- oder Chappeseide und die Bouretteseide bereiten, welche einem wirklichen Spinnprozeß unterliegen; doch bezeichnet man solche Spinnereien als Floret- oder Chappespinnereien und als Bourettespinnereien. Die zum Abhaspeln bestimmten Cocons werden in drei Klassen geteilt: die schönsten, festesten, seidenreichsten, welche den feinsten und glänzendsten Faden liefern, dienen zur Anfertigung der Kettenseide, Organzin, diejenigen von mittlerer Güte und Stärke geben die Schußseide, Trama, und die schwächsten Cocons mit grobem Faden liefern die Pelseide, eine zum Stricken, Nähen und dergleichen verwendete Seide. Das Abhaspeln geschah in den ältesten Zeiten in der Weise, daß die Cocons in ein Gefäß mit warmem Wasser geworfen, die Fadenanfänge derselben durch Klopfen oder Schlagen mit einer Rute oder einem Stäbchen auf- gefangen und die Fäden zu 3 bis 8 und mehr durch ein Auge ge- zogen wurden, wobei sie zu einem einzigen Faden zusammenleimten. Der so gewonnene Faden wurde auf einem Haspel aufgewickelt. War einer der Cocons abgehaspelt, so mußte ein neuer angeworfen werden. Auch heute geschieht das Abhaspeln noch in gleicher Weise, doch sind die Apparate, welche dazu verhelfen, nicht mehr so primitiv, wie ehedem. Vielfach führen die Arbeit aber Maschinen aus, welche mechanische Seidenhaspel heißen. Der Haspel, welcher den Faden aufzunehmen hat, wird mechanisch betrieben, die Arbeiterin hat nur die geleerten Cocons durch Anwerfen frischer zu erneuern und kann gleichzeitig 4 bis 8 Fäden beherrschen. Auch das Aufsuchen der Fadenanfänge wird mittelst einer mechanisch bewegten Bürste ausgeführt, obgleich die Handarbeit hierfür vorzuziehen ist, weil sie weniger Abfall giebt. Die Rohseide-, Grege- fäden, werden dann noch, bevor sie gezwirnt werden, auf der sog. Zwirnmühle mehr oder minder stark gedreht, mouliniert, um dem Spalten in die einzelnen Coconfäden vorzubeugen. -- Aus den Abfällen beim Abhaspeln der Cocons, ferner den nicht abwickelbaren, fehlerhaften und schlechten Cocons gewinnt man durch Spinnen die oben berührte Floret- oder Chappeseide, eine minderwertige Seide, welche jedoch heute in der Seidenindustrie nicht mehr entbehrlich ist, und aus den bei dieser Fabrikation entstehenden Rückständen gleichfalls durch Spinnen die Bouretteseide. So wie man aus wollenen und halbwollenen Lumpen die Kunstwolle gewinnt, so verwertet man auch die seidenen und halbseidenen Lumpen in gleicher Weise und erhält den Seiden-
Die Textil-Induſtrie.
Die Seidenſpinnerei.
Spricht man von Seidenſpinnereien, ſo verſteht man darunter vielfach diejenigen Anſtalten, welche ſich mit dem Abhaſpeln der Cocons und der Verarbeitung der Fäden zu Rohſeide, Grège, befaſſen, obgleich eine Spinnerei im eigentlichen Sinne wegen des fertig auf dem Cocon befind- lichen Fadens nicht erforderlich iſt. Doch hat ſich das ſo eingebürgert. Streng genommen ſollte die Bezeichnung Seidenſpinnerei nur denjenigen fabrikativen Etabliſſements zukommen, die die Floret- oder Chappeſeide und die Bouretteſeide bereiten, welche einem wirklichen Spinnprozeß unterliegen; doch bezeichnet man ſolche Spinnereien als Floret- oder Chappeſpinnereien und als Bouretteſpinnereien. Die zum Abhaſpeln beſtimmten Cocons werden in drei Klaſſen geteilt: die ſchönſten, feſteſten, ſeidenreichſten, welche den feinſten und glänzendſten Faden liefern, dienen zur Anfertigung der Kettenſeide, Organzin, diejenigen von mittlerer Güte und Stärke geben die Schußſeide, Trama, und die ſchwächſten Cocons mit grobem Faden liefern die Pelſeide, eine zum Stricken, Nähen und dergleichen verwendete Seide. Das Abhaſpeln geſchah in den älteſten Zeiten in der Weiſe, daß die Cocons in ein Gefäß mit warmem Waſſer geworfen, die Fadenanfänge derſelben durch Klopfen oder Schlagen mit einer Rute oder einem Stäbchen auf- gefangen und die Fäden zu 3 bis 8 und mehr durch ein Auge ge- zogen wurden, wobei ſie zu einem einzigen Faden zuſammenleimten. Der ſo gewonnene Faden wurde auf einem Haſpel aufgewickelt. War einer der Cocons abgehaſpelt, ſo mußte ein neuer angeworfen werden. Auch heute geſchieht das Abhaſpeln noch in gleicher Weiſe, doch ſind die Apparate, welche dazu verhelfen, nicht mehr ſo primitiv, wie ehedem. Vielfach führen die Arbeit aber Maſchinen aus, welche mechaniſche Seidenhaſpel heißen. Der Haſpel, welcher den Faden aufzunehmen hat, wird mechaniſch betrieben, die Arbeiterin hat nur die geleerten Cocons durch Anwerfen friſcher zu erneuern und kann gleichzeitig 4 bis 8 Fäden beherrſchen. Auch das Aufſuchen der Fadenanfänge wird mittelſt einer mechaniſch bewegten Bürſte ausgeführt, obgleich die Handarbeit hierfür vorzuziehen iſt, weil ſie weniger Abfall giebt. Die Rohſeide-, Grège- fäden, werden dann noch, bevor ſie gezwirnt werden, auf der ſog. Zwirnmühle mehr oder minder ſtark gedreht, mouliniert, um dem Spalten in die einzelnen Coconfäden vorzubeugen. — Aus den Abfällen beim Abhaſpeln der Cocons, ferner den nicht abwickelbaren, fehlerhaften und ſchlechten Cocons gewinnt man durch Spinnen die oben berührte Floret- oder Chappeſeide, eine minderwertige Seide, welche jedoch heute in der Seideninduſtrie nicht mehr entbehrlich iſt, und aus den bei dieſer Fabrikation entſtehenden Rückſtänden gleichfalls durch Spinnen die Bouretteſeide. So wie man aus wollenen und halbwollenen Lumpen die Kunſtwolle gewinnt, ſo verwertet man auch die ſeidenen und halbſeidenen Lumpen in gleicher Weiſe und erhält den Seiden-
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Die Textil-Induſtrie.
Die Seidenſpinnerei.
Spricht man von Seidenſpinnereien, ſo verſteht man darunter vielfach
diejenigen Anſtalten, welche ſich mit dem Abhaſpeln der Cocons und der
Verarbeitung der Fäden zu Rohſeide, Grège, befaſſen, obgleich eine
Spinnerei im eigentlichen Sinne wegen des fertig auf dem Cocon befind-
lichen Fadens nicht erforderlich iſt. Doch hat ſich das ſo eingebürgert.
Streng genommen ſollte die Bezeichnung Seidenſpinnerei nur denjenigen
fabrikativen Etabliſſements zukommen, die die Floret- oder Chappeſeide
und die Bouretteſeide bereiten, welche einem wirklichen Spinnprozeß
unterliegen; doch bezeichnet man ſolche Spinnereien als Floret- oder
Chappeſpinnereien und als Bouretteſpinnereien. Die zum Abhaſpeln
beſtimmten Cocons werden in drei Klaſſen geteilt: die ſchönſten, feſteſten,
ſeidenreichſten, welche den feinſten und glänzendſten Faden liefern,
dienen zur Anfertigung der Kettenſeide, Organzin, diejenigen von
mittlerer Güte und Stärke geben die Schußſeide, Trama, und die
ſchwächſten Cocons mit grobem Faden liefern die Pelſeide, eine zum
Stricken, Nähen und dergleichen verwendete Seide. Das Abhaſpeln
geſchah in den älteſten Zeiten in der Weiſe, daß die Cocons in ein
Gefäß mit warmem Waſſer geworfen, die Fadenanfänge derſelben durch
Klopfen oder Schlagen mit einer Rute oder einem Stäbchen auf-
gefangen und die Fäden zu 3 bis 8 und mehr durch ein Auge ge-
zogen wurden, wobei ſie zu einem einzigen Faden zuſammenleimten.
Der ſo gewonnene Faden wurde auf einem Haſpel aufgewickelt. War
einer der Cocons abgehaſpelt, ſo mußte ein neuer angeworfen werden.
Auch heute geſchieht das Abhaſpeln noch in gleicher Weiſe, doch ſind
die Apparate, welche dazu verhelfen, nicht mehr ſo primitiv, wie ehedem.
Vielfach führen die Arbeit aber Maſchinen aus, welche mechaniſche
Seidenhaſpel heißen. Der Haſpel, welcher den Faden aufzunehmen hat,
wird mechaniſch betrieben, die Arbeiterin hat nur die geleerten Cocons
durch Anwerfen friſcher zu erneuern und kann gleichzeitig 4 bis 8 Fäden
beherrſchen. Auch das Aufſuchen der Fadenanfänge wird mittelſt einer
mechaniſch bewegten Bürſte ausgeführt, obgleich die Handarbeit hierfür
vorzuziehen iſt, weil ſie weniger Abfall giebt. Die Rohſeide-, Grège-
fäden, werden dann noch, bevor ſie gezwirnt werden, auf der ſog.
Zwirnmühle mehr oder minder ſtark gedreht, mouliniert, um dem
Spalten in die einzelnen Coconfäden vorzubeugen. — Aus den Abfällen
beim Abhaſpeln der Cocons, ferner den nicht abwickelbaren, fehlerhaften
und ſchlechten Cocons gewinnt man durch Spinnen die oben berührte
Floret- oder Chappeſeide, eine minderwertige Seide, welche jedoch heute
in der Seideninduſtrie nicht mehr entbehrlich iſt, und aus den bei
dieſer Fabrikation entſtehenden Rückſtänden gleichfalls durch Spinnen
die Bouretteſeide. So wie man aus wollenen und halbwollenen
Lumpen die Kunſtwolle gewinnt, ſo verwertet man auch die ſeidenen
und halbſeidenen Lumpen in gleicher Weiſe und erhält den Seiden-
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Samter, Heinrich: Das Reich der Erfindungen. Berlin, 1896, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/samter_erfindungen_1896/382>, abgerufen am 29.11.2024.
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