Es kann ein redlicher Schwermüthige in der Verwirrung seiner Begriffe vielleicht so weit gebracht werden, daß er die Selbst- mordung als den höchsten Actus der Liebe Gottes ansieht. Seinem Herzen fehlt es nicht an Liebe, an Neigung zu dem lie- benswürdigsten Wesen, aber seinem Ver- stande an Erleuchtung.
Im Gegentheile, die erleuchtete Lie- be kennt den Willen des Herrn, weil sie er- leuchtet ist, und thut ihn, weil sie Liebe ist. So lange sie also bey Leben ist, diese erleuchtete Liebe, so lange kann keine Ver- suchung zum Selbstmorde wichtig werden, weil der Verstand, der helle, ungetrübte Menschensinn, die Sanction des Natur- gesetzes, harre aus auf der Stelle, bis dir das Zeichen zum Abzuge von dem Feldherrn gegeben wird, nicht miskennet, und der Wille, die thätige Liebe, fest an dem Gesetze hält.
Selbstmord der Tod aller vernünf- tigen Selbstliebe.
Es
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Gruͤnde wider den Selbſtmord.
Es kann ein redlicher Schwermuͤthige in der Verwirrung ſeiner Begriffe vielleicht ſo weit gebracht werden, daß er die Selbſt- mordung als den hoͤchſten Actus der Liebe Gottes anſieht. Seinem Herzen fehlt es nicht an Liebe, an Neigung zu dem lie- benswuͤrdigſten Weſen, aber ſeinem Ver- ſtande an Erleuchtung.
Im Gegentheile, die erleuchtete Lie- be kennt den Willen des Herrn, weil ſie er- leuchtet iſt, und thut ihn, weil ſie Liebe iſt. So lange ſie alſo bey Leben iſt, dieſe erleuchtete Liebe, ſo lange kann keine Ver- ſuchung zum Selbſtmorde wichtig werden, weil der Verſtand, der helle, ungetruͤbte Menſchenſinn, die Sanction des Natur- geſetzes, harre aus auf der Stelle, bis dir das Zeichen zum Abzuge von dem Feldherrn gegeben wird, nicht miskennet, und der Wille, die thaͤtige Liebe, feſt an dem Geſetze haͤlt.
Selbſtmord der Tod aller vernuͤnf- tigen Selbſtliebe.
Es
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Gruͤnde wider den Selbſtmord.
Es kann ein redlicher Schwermuͤthige
in der Verwirrung ſeiner Begriffe vielleicht
ſo weit gebracht werden, daß er die Selbſt-
mordung als den hoͤchſten Actus der Liebe
Gottes anſieht. Seinem Herzen fehlt es
nicht an Liebe, an Neigung zu dem lie-
benswuͤrdigſten Weſen, aber ſeinem Ver-
ſtande an Erleuchtung.
Im Gegentheile, die erleuchtete Lie-
be kennt den Willen des Herrn, weil ſie er-
leuchtet iſt, und thut ihn, weil ſie Liebe
iſt. So lange ſie alſo bey Leben iſt, dieſe
erleuchtete Liebe, ſo lange kann keine Ver-
ſuchung zum Selbſtmorde wichtig werden,
weil der Verſtand, der helle, ungetruͤbte
Menſchenſinn, die Sanction des Natur-
geſetzes, harre aus auf der Stelle, bis
dir das Zeichen zum Abzuge von dem
Feldherrn gegeben wird, nicht miskennet,
und der Wille, die thaͤtige Liebe, feſt an
dem Geſetze haͤlt.
Selbſtmord der Tod aller vernuͤnf-
tigen Selbſtliebe.
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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/53>, abgerufen am 26.06.2024.
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