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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

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Erster Abschnitt.

Nun der Selbstmörder braucht diese
köstliche, und zur Erreichung der wichtig-
sten Zwecke gegebene Kraft, dieses edle Ge-
schenk -- das Menschenleben als ein Werk-
zeug, eben dieses Menschenleben zu zerstö-
ren, arbeitet durch sein Ich gegen sein Ich --
braucht seine lebendige Hand wider das Le-
ben seiner Hand, seine Existenz wider seine
Existenz. Er wirft also die kostbarste Perle
in den vorbeyfliessenden Strom, und wähnt
sich glücklich, der Perle los geworden zu
seyn. Ganz gewiß hat er ihren Werth ver-
kannt: sonst hätte er die Perle noch, und
bewahrte sie, wie ein Heiligthum. Denn
wer den Werth dieses Lebens fühlte, könnte
so wenig ein Zerstörer dieses seines Lebens
werden, als wenig die Liebe hassen kann.

"Allein, wird der scharfsinnigere
Theil meiner Leser denken, da liegt eben der
Knote, das ist eben die Frage: wie können
wir uns den Werth dieses Lebens fühlbar
machen, und dieß Gefühl immer lebendig
genug erhalten"? Ja wahrlich, da ist der
Knote. Die Kunst den Werth des Lebens

kennen
Erſter Abſchnitt.

Nun der Selbſtmoͤrder braucht dieſe
koͤſtliche, und zur Erreichung der wichtig-
ſten Zwecke gegebene Kraft, dieſes edle Ge-
ſchenk — das Menſchenleben als ein Werk-
zeug, eben dieſes Menſchenleben zu zerſtoͤ-
ren, arbeitet durch ſein Ich gegen ſein Ich —
braucht ſeine lebendige Hand wider das Le-
ben ſeiner Hand, ſeine Exiſtenz wider ſeine
Exiſtenz. Er wirft alſo die koſtbarſte Perle
in den vorbeyflieſſenden Strom, und waͤhnt
ſich gluͤcklich, der Perle los geworden zu
ſeyn. Ganz gewiß hat er ihren Werth ver-
kannt: ſonſt haͤtte er die Perle noch, und
bewahrte ſie, wie ein Heiligthum. Denn
wer den Werth dieſes Lebens fuͤhlte, koͤnnte
ſo wenig ein Zerſtoͤrer dieſes ſeines Lebens
werden, als wenig die Liebe haſſen kann.

„Allein, wird der ſcharfſinnigere
Theil meiner Leſer denken, da liegt eben der
Knote, das iſt eben die Frage: wie koͤnnen
wir uns den Werth dieſes Lebens fuͤhlbar
machen, und dieß Gefuͤhl immer lebendig
genug erhalten„? Ja wahrlich, da iſt der
Knote. Die Kunſt den Werth des Lebens

kennen
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[32/0044] Erſter Abſchnitt. Nun der Selbſtmoͤrder braucht dieſe koͤſtliche, und zur Erreichung der wichtig- ſten Zwecke gegebene Kraft, dieſes edle Ge- ſchenk — das Menſchenleben als ein Werk- zeug, eben dieſes Menſchenleben zu zerſtoͤ- ren, arbeitet durch ſein Ich gegen ſein Ich — braucht ſeine lebendige Hand wider das Le- ben ſeiner Hand, ſeine Exiſtenz wider ſeine Exiſtenz. Er wirft alſo die koſtbarſte Perle in den vorbeyflieſſenden Strom, und waͤhnt ſich gluͤcklich, der Perle los geworden zu ſeyn. Ganz gewiß hat er ihren Werth ver- kannt: ſonſt haͤtte er die Perle noch, und bewahrte ſie, wie ein Heiligthum. Denn wer den Werth dieſes Lebens fuͤhlte, koͤnnte ſo wenig ein Zerſtoͤrer dieſes ſeines Lebens werden, als wenig die Liebe haſſen kann. „Allein, wird der ſcharfſinnigere Theil meiner Leſer denken, da liegt eben der Knote, das iſt eben die Frage: wie koͤnnen wir uns den Werth dieſes Lebens fuͤhlbar machen, und dieß Gefuͤhl immer lebendig genug erhalten„? Ja wahrlich, da iſt der Knote. Die Kunſt den Werth des Lebens kennen

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/44>, abgerufen am 29.03.2024.