nicht zu lange zuwarten müs- se, sonst möch- te man im Zeitpuncte, wo man seiner äusserst be- dürfte, zur Selbstermor- dung zu schwach seyn.
stes genug, jede Beschwerde des hohen Alters, auch wenn die Glieder des Leibes ihre Dienste allmählich ver- sagen, zu tragen: bedarf al- so des elendesten Mittels nicht, sich von dieser Beschwerde zu befreyen. Auch wenn die Hand erkaltet, das Auge bricht, die Lippe erstarrt, -- blickt der Geist noch ruhig in die Zu- kunft, und harrt Gottgelassen dem Festtage der Auflösung entgegen. Und wenn, was das äusserste ist, die anwach- senden Schmerzen dem geprüf- ten Dulder auch das Selbst- bewußtseyn raubten, was verlöre er dadurch? Nichts.
parte meliore. At si coeperit concutere men- tem, si partes eius convellere, si mihi non vi- tam reliquerit, sed animam: prosiliam ex aedi- ficio putrido ac ruenti. --
Das
Morbum
Dritter Abſchnitt.
Seneka.
Der chriſtliche Weiſe.
nicht zu lange zuwarten muͤſ- ſe, ſonſt moͤch- te man im Zeitpuncte, wo man ſeiner aͤuſſerſt be- duͤrfte, zur Selbſtermor- dung zu ſchwach ſeyn.
ſtes genug, jede Beſchwerde des hohen Alters, auch wenn die Glieder des Leibes ihre Dienſte allmaͤhlich ver- ſagen, zu tragen: bedarf al- ſo des elendeſten Mittels nicht, ſich von dieſer Beſchwerde zu befreyen. Auch wenn die Hand erkaltet, das Auge bricht, die Lippe erſtarrt, — blickt der Geiſt noch ruhig in die Zu- kunft, und harrt Gottgelaſſen dem Feſttage der Aufloͤſung entgegen. Und wenn, was das aͤuſſerſte iſt, die anwach- ſenden Schmerzen dem gepruͤf- ten Dulder auch das Selbſt- bewußtſeyn raubten, was verloͤre er dadurch? Nichts.
parte meliore. At ſi coeperit concutere men- tem, ſi partes eius convellere, ſi mihi non vi- tam reliquerit, ſed animam: proſiliam ex aedi- ficio putrido ac ruenti. —
Das
Morbum
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Dritter Abſchnitt.
Seneka. Der chriſtliche Weiſe.
nicht zu lange
zuwarten muͤſ-
ſe, ſonſt moͤch-
te man im
Zeitpuncte, wo
man ſeiner
aͤuſſerſt be-
duͤrfte, zur
Selbſtermor-
dung zu
ſchwach ſeyn. ſtes genug, jede Beſchwerde
des hohen Alters, auch
wenn die Glieder des Leibes
ihre Dienſte allmaͤhlich ver-
ſagen, zu tragen: bedarf al-
ſo des elendeſten Mittels nicht,
ſich von dieſer Beſchwerde zu
befreyen. Auch wenn die
Hand erkaltet, das Auge bricht,
die Lippe erſtarrt, — blickt der
Geiſt noch ruhig in die Zu-
kunft, und harrt Gottgelaſſen
dem Feſttage der Aufloͤſung
entgegen. Und wenn, was
das aͤuſſerſte iſt, die anwach-
ſenden Schmerzen dem gepruͤf-
ten Dulder auch das Selbſt-
bewußtſeyn raubten, was
verloͤre er dadurch? Nichts.
Das
parte meliore. At ſi coeperit concutere men-
tem, ſi partes eius convellere, ſi mihi non vi-
tam reliquerit, ſed animam: proſiliam ex aedi-
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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/186>, abgerufen am 16.07.2024.
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