Das schick- sal träge er- warten gränzt an Furchtsam- keit: so wie es ein Beweis der Weinliebe ist, wenn ei- ner die Flasche rein ausleeret, und auch die Hefe trinkt.
Immer und ganz für sei- ne Pflicht, und gar nicht für sein Schicksal besorgt seyn -- das gränzt nicht et- wa an Weisheit, sondern ist selbst höchste Menschenweis- heit: so wie es ein Beweis der vollkommensten Tugend ist, wenn einer weder auf Län- ge noch Kürze des Lebens rech- net, sondern jeden Augenblick, der ihm wird, zum thätigen Preise des Schöpfers, das heißt, zu eignem, und fremden Wohl nutzt, als wäre er der einzige und letzte dieses Lebens.
Wenn die Glieder des Körpers zu ih- ren Amtsver- richtungen un- nütz sind: wa-
Wenn gleich die Werkzeu- ge des Körpers zu allen ihren Verrichtungen untauglich
tra modum deditus vino est, qui amphoram exsiccat, et faecem quoque exsorbet. -- Si inutile ministeriis est corpus, quidni oporteat educere animum laborantem? --
wer-
Et
Dritter Abſchnitt.
Seneka.
Der chriſtliche Weiſe.
Das ſchick- ſal traͤge er- warten graͤnzt an Furchtſam- keit: ſo wie es ein Beweis der Weinliebe iſt, wenn ei- ner die Flaſche rein ausleeret, und auch die Hefe trinkt.
Immer und ganz fuͤr ſei- ne Pflicht, und gar nicht fuͤr ſein Schickſal beſorgt ſeyn — das graͤnzt nicht et- wa an Weisheit, ſondern iſt ſelbſt hoͤchſte Menſchenweis- heit: ſo wie es ein Beweis der vollkommenſten Tugend iſt, wenn einer weder auf Laͤn- ge noch Kuͤrze des Lebens rech- net, ſondern jeden Augenblick, der ihm wird, zum thaͤtigen Preiſe des Schoͤpfers, das heißt, zu eignem, und fremden Wohl nutzt, als waͤre er der einzige und letzte dieſes Lebens.
Wenn die Glieder des Koͤrpers zu ih- ren Amtsver- richtungen un- nuͤtz ſind: wa-
Wenn gleich die Werkzeu- ge des Koͤrpers zu allen ihren Verrichtungen untauglich
tra modum deditus vino eſt, qui amphoram exſiccat, et faecem quoque exſorbet. — Si inutile miniſteriis eſt corpus, quidni oporteat educere animum laborantem? —
wer-
Et
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Dritter Abſchnitt.
Seneka. Der chriſtliche Weiſe.
Das ſchick-
ſal traͤge er-
warten graͤnzt
an Furchtſam-
keit: ſo wie
es ein Beweis
der Weinliebe
iſt, wenn ei-
ner die Flaſche
rein ausleeret,
und auch die
Hefe trinkt. Immer und ganz fuͤr ſei-
ne Pflicht, und gar nicht
fuͤr ſein Schickſal beſorgt
ſeyn — das graͤnzt nicht et-
wa an Weisheit, ſondern iſt
ſelbſt hoͤchſte Menſchenweis-
heit: ſo wie es ein Beweis
der vollkommenſten Tugend
iſt, wenn einer weder auf Laͤn-
ge noch Kuͤrze des Lebens rech-
net, ſondern jeden Augenblick,
der ihm wird, zum thaͤtigen
Preiſe des Schoͤpfers, das
heißt, zu eignem, und fremden
Wohl nutzt, als waͤre er der
einzige und letzte dieſes Lebens.
Wenn die
Glieder des
Koͤrpers zu ih-
ren Amtsver-
richtungen un-
nuͤtz ſind: wa- Wenn gleich die Werkzeu-
ge des Koͤrpers zu allen ihren
Verrichtungen untauglich
wer-
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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/184>, abgerufen am 16.07.2024.
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