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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

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Erster Abschnitt.
nach Fortdauer seines Lebens, und kämpft
gegen jede äußere Gewalt, die ihm das Le-
ben zu rauben drohet. Wie ist es denn
möglich, daß ein Lebendiger, der den Werth
des Lebens fühlen kann, und ihn schon so
oft gefühlet hat, sich selbst Gewalt anthue,
um sich dieß sein Leben zu rauben? Welche
Empörung eines Geschöpfes,
dem der
Wunsch zu leben Natur ist, gegen diese
seine Natur gehört dazu, daß es sich selbst
hinrichte.

Selbsthinrichtung! welch eine Schauer
durchläuft mein Gebein beym bloßen Aus-
sprechen dieses Wortes? Der Wurm krümmt
sich gegen den zerdrückenden Fußtritt des
Menschen, und sagt durch diese Krümmung:
Ich will leben; und der Mensch, der hoch
über dem Wurme an der Leiter der Dinge
steht, kann ein Feind seiner Existenz wer-
den, und durch That sprechen: Ich will
nicht leben!
Welche Unordnung!

Du sagst: Die Leiden, die auf mir
liegen, sind so schwer, daß sie den Trieb
zur Selbsterhaltung überwältigen; daß mei-

ne

Erſter Abſchnitt.
nach Fortdauer ſeines Lebens, und kaͤmpft
gegen jede aͤußere Gewalt, die ihm das Le-
ben zu rauben drohet. Wie iſt es denn
moͤglich, daß ein Lebendiger, der den Werth
des Lebens fuͤhlen kann, und ihn ſchon ſo
oft gefuͤhlet hat, ſich ſelbſt Gewalt anthue,
um ſich dieß ſein Leben zu rauben? Welche
Empoͤrung eines Geſchoͤpfes,
dem der
Wunſch zu leben Natur iſt, gegen dieſe
ſeine Natur gehoͤrt dazu, daß es ſich ſelbſt
hinrichte.

Selbſthinrichtung! welch eine Schauer
durchlaͤuft mein Gebein beym bloßen Aus-
ſprechen dieſes Wortes? Der Wurm kruͤmmt
ſich gegen den zerdruͤckenden Fußtritt des
Menſchen, und ſagt durch dieſe Kruͤmmung:
Ich will leben; und der Menſch, der hoch
uͤber dem Wurme an der Leiter der Dinge
ſteht, kann ein Feind ſeiner Exiſtenz wer-
den, und durch That ſprechen: Ich will
nicht leben!
Welche Unordnung!

Du ſagſt: Die Leiden, die auf mir
liegen, ſind ſo ſchwer, daß ſie den Trieb
zur Selbſterhaltung uͤberwaͤltigen; daß mei-

ne
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[4/0016] Erſter Abſchnitt. nach Fortdauer ſeines Lebens, und kaͤmpft gegen jede aͤußere Gewalt, die ihm das Le- ben zu rauben drohet. Wie iſt es denn moͤglich, daß ein Lebendiger, der den Werth des Lebens fuͤhlen kann, und ihn ſchon ſo oft gefuͤhlet hat, ſich ſelbſt Gewalt anthue, um ſich dieß ſein Leben zu rauben? Welche Empoͤrung eines Geſchoͤpfes, dem der Wunſch zu leben Natur iſt, gegen dieſe ſeine Natur gehoͤrt dazu, daß es ſich ſelbſt hinrichte. Selbſthinrichtung! welch eine Schauer durchlaͤuft mein Gebein beym bloßen Aus- ſprechen dieſes Wortes? Der Wurm kruͤmmt ſich gegen den zerdruͤckenden Fußtritt des Menſchen, und ſagt durch dieſe Kruͤmmung: Ich will leben; und der Menſch, der hoch uͤber dem Wurme an der Leiter der Dinge ſteht, kann ein Feind ſeiner Exiſtenz wer- den, und durch That ſprechen: Ich will nicht leben! Welche Unordnung! Du ſagſt: Die Leiden, die auf mir liegen, ſind ſo ſchwer, daß ſie den Trieb zur Selbſterhaltung uͤberwaͤltigen; daß mei- ne

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/16>, abgerufen am 19.04.2024.