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Sailer, Johann Michael: Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. München, 1791.

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Neigungen dazu, um die Wahrheit sehen zu wollen
und sehen zu können. Und diese Besiegung lässt sich
ohne Kampf, d. h. ohne Selbstverläugnung nicht
denken.

Wenn aber die Eigenliebe überhaupt das Ver-
trautwerden mit der Wahrheit hindert: so hindert es
d. gewiss jene Eigenliebe, die nach eigner Ehre gei-
zet, am meisten. Um die Wahrheit zu lernen, muss
man belehrsam seyn, und der Stolz ist seiner Natur
nach unbelehrsam. Denn er weiss ja schon alles, was
ihn andere lehren könnten. Um die Wahrheit kennen
zu lernen, muss man schweigen, fragen und hören
können, und der Stolz kann seiner Natur nach nicht
schweigen, fragen, hören, will nur gefragt und ge-
hört werden. Denn er hat ja das Vorrecht zu reden.
Um die Wahrheit zu lernen, um stille nachdenken zu
können, muss man in sich ruhig seyn, und der Stolz
ist seiner Natur nach eine ewige Unruhe -- denkt
nur auf Eroberung, will Anbetung, aber nicht die
Wahrheit.

Ganz unser wird die Wahrheit nicht 3) ohne
Thun des erkannten Wahren und ohne Treuseyn im
Kleinen
. Denn wer nicht thut, was die Wahrheit fo-
dert, der liebt die Wahrheit nicht von ganzem Her-
zen. Und ohne Liebe zu ihr, wird sie nicht ganz un-
ser. Ferner:

Wer das erkannte Wahre wohl anwendet, ge-
braucht a. das Licht, das er hat, und kommt durch

diesen

Neigungen dazu, um die Wahrheit ſehen zu wollen
und ſehen zu können. Und dieſe Beſiegung läſst ſich
ohne Kampf, d. h. ohne Selbſtverläugnung nicht
denken.

Wenn aber die Eigenliebe überhaupt das Ver-
trautwerden mit der Wahrheit hindert: ſo hindert es
d. gewiſs jene Eigenliebe, die nach eigner Ehre gei-
zet, am meiſten. Um die Wahrheit zu lernen, muſs
man belehrſam ſeyn, und der Stolz iſt ſeiner Natur
nach unbelehrſam. Denn er weiſs ja ſchon alles, was
ihn andere lehren könnten. Um die Wahrheit kennen
zu lernen, muſs man ſchweigen, fragen und hören
können, und der Stolz kann ſeiner Natur nach nicht
ſchweigen, fragen, hören, will nur gefragt und ge-
hört werden. Denn er hat ja das Vorrecht zu reden.
Um die Wahrheit zu lernen, um ſtille nachdenken zu
können, muſs man in ſich ruhig ſeyn, und der Stolz
iſt ſeiner Natur nach eine ewige Unruhe — denkt
nur auf Eroberung, will Anbetung, aber nicht die
Wahrheit.

Ganz unſer wird die Wahrheit nicht 3) ohne
Thun des erkannten Wahren und ohne Treuſeyn im
Kleinen
. Denn wer nicht thut, was die Wahrheit fo-
dert, der liebt die Wahrheit nicht von ganzem Her-
zen. Und ohne Liebe zu ihr, wird ſie nicht ganz un-
ſer. Ferner:

Wer das erkannte Wahre wohl anwendet, ge-
braucht a. das Licht, das er hat, und kommt durch

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[24/0038] Neigungen dazu, um die Wahrheit ſehen zu wollen und ſehen zu können. Und dieſe Beſiegung läſst ſich ohne Kampf, d. h. ohne Selbſtverläugnung nicht denken. Wenn aber die Eigenliebe überhaupt das Ver- trautwerden mit der Wahrheit hindert: ſo hindert es d. gewiſs jene Eigenliebe, die nach eigner Ehre gei- zet, am meiſten. Um die Wahrheit zu lernen, muſs man belehrſam ſeyn, und der Stolz iſt ſeiner Natur nach unbelehrſam. Denn er weiſs ja ſchon alles, was ihn andere lehren könnten. Um die Wahrheit kennen zu lernen, muſs man ſchweigen, fragen und hören können, und der Stolz kann ſeiner Natur nach nicht ſchweigen, fragen, hören, will nur gefragt und ge- hört werden. Denn er hat ja das Vorrecht zu reden. Um die Wahrheit zu lernen, um ſtille nachdenken zu können, muſs man in ſich ruhig ſeyn, und der Stolz iſt ſeiner Natur nach eine ewige Unruhe — denkt nur auf Eroberung, will Anbetung, aber nicht die Wahrheit. Ganz unſer wird die Wahrheit nicht 3) ohne Thun des erkannten Wahren und ohne Treuſeyn im Kleinen. Denn wer nicht thut, was die Wahrheit fo- dert, der liebt die Wahrheit nicht von ganzem Her- zen. Und ohne Liebe zu ihr, wird ſie nicht ganz un- ſer. Ferner: Wer das erkannte Wahre wohl anwendet, ge- braucht a. das Licht, das er hat, und kommt durch dieſen

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. München, 1791, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_prediger_1791/38>, abgerufen am 19.04.2024.