Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sailer, Johann Michael: Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. München, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

der in den Gesetzen des Landes, denen die Willkühr
ihr Ansehen genommen hat oder nehmen wird, noch
in den stehenden Armeen, die auch von der Willkühr
commandirt werden können, ein heilend Kräutlein zu
finden seyn wird. Es wäre also keine geringe Ver-
blendung. glauben, man dürfe nur den Trieb nach
Freyheit in den Völkern reizen, um der Uebermacht
der Grossen Einhalt zu thun. Das hiesse doch den
schlafenden, mächtigsten Feind wecken, um Ruhe zu
schaffen, und das Uebel zuerst recht gross machen, um
es heilen zu können, und die Zügel des Staates ab-
schneiden, um die belluam multorum capitum, die
blinde Willkühr der blinden Menge blindlings zu leiten.
Ist denn die regellose Willkühr des Volkes nicht eben
so schrecklich, oder vielmehr noch ungleich schreck-
licher als die Willkühr eines Einzigen? Und trägt nicht
jeder Mensch, so wie er den Keim des Stolzes in sich
hat, um mit dem Verfasser der einfaltigen Lebens-
weisheit zu reden, auch den Despoten in sich? Du und
ich, und jeder Adamssohn, wenn uns die Religion nicht
zuvor mild und sanft, gut und menschlich, weise und
schonend gegen die Rechte unsers Nächsten gemacht hat
,
werden als gebohrne Despoten, d. h., als Menschen,
die den Versuchungen des Hochmuths und anderer Lei-
denschaften, kraft ihrer sinnlichen Natur hingegeben
sind, und mit dem Egoismus, der der Despotismus
selbst ist oder sein Vater, gewaltig zu kämpfen haben,
-- -- ich und du, und jeder Adamssohn, werden ohne
gebietende Achtung für die Gerechtigkeit, ohne prak-
tische Religion -- das Volk drücken, sobald wir eines

zu
G 4

der in den Geſetzen des Landes, denen die Willkühr
ihr Anſehen genommen hat oder nehmen wird, noch
in den ſtehenden Armeen, die auch von der Willkühr
commandirt werden können, ein heilend Kräutlein zu
finden ſeyn wird. Es wäre alſo keine geringe Ver-
blendung. glauben, man dürfe nur den Trieb nach
Freyheit in den Völkern reizen, um der Uebermacht
der Groſſen Einhalt zu thun. Das hieſse doch den
ſchlafenden, mächtigſten Feind wecken, um Ruhe zu
ſchaffen, und das Uebel zuerſt recht groſs machen, um
es heilen zu können, und die Zügel des Staates ab-
ſchneiden, um die belluam multorum capitum, die
blinde Willkühr der blinden Menge blindlings zu leiten.
Iſt denn die regelloſe Willkühr des Volkes nicht eben
ſo ſchrecklich, oder vielmehr noch ungleich ſchreck-
licher als die Willkühr eines Einzigen? Und trägt nicht
jeder Menſch, ſo wie er den Keim des Stolzes in ſich
hat, um mit dem Verfaſſer der einfaltigen Lebens-
weisheit zu reden, auch den Deſpoten in ſich? Du und
ich, und jeder Adamsſohn, wenn uns die Religion nicht
zuvor mild und ſanft, gut und menſchlich, weiſe und
ſchonend gegen die Rechte unſers Nächſten gemacht hat
,
werden als gebohrne Deſpoten, d. h., als Menſchen,
die den Verſuchungen des Hochmuths und anderer Lei-
denſchaften, kraft ihrer ſinnlichen Natur hingegeben
ſind, und mit dem Egoismus, der der Deſpotismus
ſelbſt iſt oder ſein Vater, gewaltig zu kämpfen haben,
— — ich und du, und jeder Adamsſohn, werden ohne
gebietende Achtung für die Gerechtigkeit, ohne prak-
tiſche Religion — das Volk drücken, ſobald wir eines

zu
G 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0117" n="103"/>
der in den Ge&#x017F;etzen des Landes, denen die Willkühr<lb/>
ihr An&#x017F;ehen genommen hat oder nehmen wird, noch<lb/>
in den &#x017F;tehenden Armeen, die auch von der Willkühr<lb/>
commandirt werden können, ein heilend Kräutlein zu<lb/>
finden &#x017F;eyn wird. Es wäre al&#x017F;o keine geringe Ver-<lb/>
blendung. glauben, man dürfe nur den Trieb nach<lb/>
Freyheit in den Völkern reizen, um der Uebermacht<lb/>
der Gro&#x017F;&#x017F;en Einhalt zu thun. Das hie&#x017F;se doch den<lb/>
&#x017F;chlafenden, mächtig&#x017F;ten Feind wecken, um Ruhe zu<lb/>
&#x017F;chaffen, und das Uebel zuer&#x017F;t recht gro&#x017F;s machen, um<lb/>
es heilen zu können, und die Zügel des Staates ab-<lb/>
&#x017F;chneiden, um die belluam multorum capitum, die<lb/>
blinde Willkühr der blinden Menge blindlings zu leiten.<lb/>
I&#x017F;t denn die regello&#x017F;e Willkühr des Volkes nicht eben<lb/>
&#x017F;o &#x017F;chrecklich, oder vielmehr noch ungleich &#x017F;chreck-<lb/>
licher als die Willkühr eines Einzigen? Und trägt nicht<lb/>
jeder Men&#x017F;ch, &#x017F;o wie er den Keim des Stolzes in &#x017F;ich<lb/>
hat, um mit dem Verfa&#x017F;&#x017F;er der einfaltigen Lebens-<lb/>
weisheit zu reden, auch den <hi rendition="#i">De&#x017F;poten in &#x017F;ich?</hi> Du und<lb/>
ich, und jeder Adams&#x017F;ohn, <hi rendition="#i">wenn uns die Religion nicht<lb/>
zuvor mild und &#x017F;anft, gut und men&#x017F;chlich, wei&#x017F;e und<lb/>
&#x017F;chonend gegen die Rechte un&#x017F;ers Näch&#x017F;ten gemacht hat</hi>,<lb/>
werden als gebohrne De&#x017F;poten, d. h., als Men&#x017F;chen,<lb/>
die den Ver&#x017F;uchungen des Hochmuths und anderer Lei-<lb/>
den&#x017F;chaften, kraft ihrer &#x017F;innlichen Natur hingegeben<lb/>
&#x017F;ind, und mit dem Egoismus, der der De&#x017F;potismus<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t i&#x017F;t oder &#x017F;ein Vater, gewaltig zu kämpfen haben,<lb/>
&#x2014; &#x2014; ich und du, und jeder Adams&#x017F;ohn, werden ohne<lb/>
gebietende Achtung für die Gerechtigkeit, ohne prak-<lb/>
ti&#x017F;che Religion &#x2014; <hi rendition="#i">das Volk drücken, &#x017F;obald wir eines</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G 4</fw><fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#i">zu</hi></fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[103/0117] der in den Geſetzen des Landes, denen die Willkühr ihr Anſehen genommen hat oder nehmen wird, noch in den ſtehenden Armeen, die auch von der Willkühr commandirt werden können, ein heilend Kräutlein zu finden ſeyn wird. Es wäre alſo keine geringe Ver- blendung. glauben, man dürfe nur den Trieb nach Freyheit in den Völkern reizen, um der Uebermacht der Groſſen Einhalt zu thun. Das hieſse doch den ſchlafenden, mächtigſten Feind wecken, um Ruhe zu ſchaffen, und das Uebel zuerſt recht groſs machen, um es heilen zu können, und die Zügel des Staates ab- ſchneiden, um die belluam multorum capitum, die blinde Willkühr der blinden Menge blindlings zu leiten. Iſt denn die regelloſe Willkühr des Volkes nicht eben ſo ſchrecklich, oder vielmehr noch ungleich ſchreck- licher als die Willkühr eines Einzigen? Und trägt nicht jeder Menſch, ſo wie er den Keim des Stolzes in ſich hat, um mit dem Verfaſſer der einfaltigen Lebens- weisheit zu reden, auch den Deſpoten in ſich? Du und ich, und jeder Adamsſohn, wenn uns die Religion nicht zuvor mild und ſanft, gut und menſchlich, weiſe und ſchonend gegen die Rechte unſers Nächſten gemacht hat, werden als gebohrne Deſpoten, d. h., als Menſchen, die den Verſuchungen des Hochmuths und anderer Lei- denſchaften, kraft ihrer ſinnlichen Natur hingegeben ſind, und mit dem Egoismus, der der Deſpotismus ſelbſt iſt oder ſein Vater, gewaltig zu kämpfen haben, — — ich und du, und jeder Adamsſohn, werden ohne gebietende Achtung für die Gerechtigkeit, ohne prak- tiſche Religion — das Volk drücken, ſobald wir eines zu G 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_prediger_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_prediger_1791/117
Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. München, 1791, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_prediger_1791/117>, abgerufen am 28.03.2024.