Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Dogma von der Constanz der Arten.
Systematiker selbst gewöhnlich nur einem dunklen Gefühl bei
der Aufstellung ihrer Gruppen folgten, ohne sich die Gründe
ihres Thuns logisch klar zu entwickeln. In dieser Beziehung ist
John Lindley 1) insofern als rühmliche Ausnahme zu nennen,
als er wiederholt seit 1830 ausführlich über die Grundsätze der
natürlichen Classification sich aussprach und ähnlich wie es De
Candolle
gethan hatte, eine Theorie der Systematik zu ent-
wickeln suchte 2). Aber auch nur in diesem Streben liegt sein
Verdienst, denn die Grundsätze selbst, welche er aufstellte, sind
zum größten Theil nicht nur ganz unrichtig, sondern sie wider-
sprechen durchaus dem von ihm selbst aufgestellten, wie jedem
anderen natürlichen System. In viel höherem Grade, als bei
De Candolle finden wir bei Lindley den Gegensatz zwischen
der eigenen Theorie und der practischen Bethätigung bei der
Aufstellung des Systems; nur ist der Fall insofern ein anderer,
als De Candolle zwar richtige Principien für die Beurtheilung
der Verwandtschaft aufstellte, diese aber zum Theil nicht befolgte,
während dagegen Lindley aus den vorhandenen, bereits vielfach
festgestellten natürlichen Verwandtschaften ganz unrichtige Regeln
der Systematik ableitete: obgleich die Betrachtung aller bis zum
Jahre 1853 aufgestellten Systeme ganz deutlich zeigt, daß die

1) John Lindley, Professor der Botanik in London, geb. in Chatton
bei Norwich 1799, gest. zu London 1865.
2) Auguste de Saint-Hilaire (geb. Orleans 1779, gest. daselbst
1853, Professor in Paris) gab 1840 lecons de Botanique comprenant
principalement la Morphologie vegetale etc.
heraus. Es enthält eine
etwas weitschweifige Darstellung von P. de Candolle's Symmetrielehre
in Verbindung mit Goethe's Metamorphosentheorie und Schimper's
Blattstellungslehre, überhaupt der damals geltenden vergleichenden Morpho-
logie, welche schließlich zu einer Theorie der Systematik benutzt wird. Das
umfangreiche Werk enthält bei weitem weniger Fehler als Lindley's theore-
tisches Vorwort, ist aber auch weniger tief und berührt die Fundamen-
talfragen, die uns hier interessiren, nur nebenbei; es ist aber insoferne von
historischem Interesse, als es den Zustand der Morphologie vor 1840 in
klarer und sehr übersichtlicher Form darstellt.
Sachs, Geschichte der Botanik. 11

Dogma von der Conſtanz der Arten.
Syſtematiker ſelbſt gewöhnlich nur einem dunklen Gefühl bei
der Aufſtellung ihrer Gruppen folgten, ohne ſich die Gründe
ihres Thuns logiſch klar zu entwickeln. In dieſer Beziehung iſt
John Lindley 1) inſofern als rühmliche Ausnahme zu nennen,
als er wiederholt ſeit 1830 ausführlich über die Grundſätze der
natürlichen Claſſification ſich ausſprach und ähnlich wie es De
Candolle
gethan hatte, eine Theorie der Syſtematik zu ent-
wickeln ſuchte 2). Aber auch nur in dieſem Streben liegt ſein
Verdienſt, denn die Grundſätze ſelbſt, welche er aufſtellte, ſind
zum größten Theil nicht nur ganz unrichtig, ſondern ſie wider-
ſprechen durchaus dem von ihm ſelbſt aufgeſtellten, wie jedem
anderen natürlichen Syſtem. In viel höherem Grade, als bei
De Candolle finden wir bei Lindley den Gegenſatz zwiſchen
der eigenen Theorie und der practiſchen Bethätigung bei der
Aufſtellung des Syſtems; nur iſt der Fall inſofern ein anderer,
als De Candolle zwar richtige Principien für die Beurtheilung
der Verwandtſchaft aufſtellte, dieſe aber zum Theil nicht befolgte,
während dagegen Lindley aus den vorhandenen, bereits vielfach
feſtgeſtellten natürlichen Verwandtſchaften ganz unrichtige Regeln
der Syſtematik ableitete: obgleich die Betrachtung aller bis zum
Jahre 1853 aufgeſtellten Syſteme ganz deutlich zeigt, daß die

1) John Lindley, Profeſſor der Botanik in London, geb. in Chatton
bei Norwich 1799, geſt. zu London 1865.
2) Auguſte de Saint-Hilaire (geb. Orleans 1779, geſt. daſelbſt
1853, Profeſſor in Paris) gab 1840 lecons de Botanique comprenant
principalement la Morphologie végétale etc.
heraus. Es enthält eine
etwas weitſchweifige Darſtellung von P. de Candolle's Symmetrielehre
in Verbindung mit Goethe's Metamorphoſentheorie und Schimper's
Blattſtellungslehre, überhaupt der damals geltenden vergleichenden Morpho-
logie, welche ſchließlich zu einer Theorie der Syſtematik benutzt wird. Das
umfangreiche Werk enthält bei weitem weniger Fehler als Lindley's theore-
tiſches Vorwort, iſt aber auch weniger tief und berührt die Fundamen-
talfragen, die uns hier intereſſiren, nur nebenbei; es iſt aber inſoferne von
hiſtoriſchem Intereſſe, als es den Zuſtand der Morphologie vor 1840 in
klarer und ſehr überſichtlicher Form darſtellt.
Sachs, Geſchichte der Botanik. 11
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0173" n="161"/><fw place="top" type="header">Dogma von der Con&#x017F;tanz der Arten.</fw><lb/>
Sy&#x017F;tematiker &#x017F;elb&#x017F;t gewöhnlich nur einem dunklen Gefühl bei<lb/>
der Auf&#x017F;tellung ihrer Gruppen folgten, ohne &#x017F;ich die Gründe<lb/>
ihres Thuns logi&#x017F;ch klar zu entwickeln. In die&#x017F;er Beziehung i&#x017F;t<lb/><hi rendition="#b">John Lindley</hi> <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#g">John Lindley</hi>, Profe&#x017F;&#x017F;or der Botanik in London, geb. in Chatton<lb/>
bei Norwich 1799, ge&#x017F;t. zu London 1865.</note> in&#x017F;ofern als rühmliche Ausnahme zu nennen,<lb/>
als er wiederholt &#x017F;eit 1830 ausführlich über die Grund&#x017F;ätze der<lb/>
natürlichen Cla&#x017F;&#x017F;ification &#x017F;ich aus&#x017F;prach und ähnlich wie es <hi rendition="#g">De<lb/>
Candolle</hi> gethan hatte, eine Theorie der Sy&#x017F;tematik zu ent-<lb/>
wickeln &#x017F;uchte <note place="foot" n="2)"><hi rendition="#g">Augu&#x017F;te de Saint</hi>-<hi rendition="#g">Hilaire</hi> (geb. Orleans 1779, ge&#x017F;t. da&#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
1853, Profe&#x017F;&#x017F;or in Paris) gab 1840 <hi rendition="#aq">lecons de Botanique comprenant<lb/>
principalement la Morphologie végétale etc.</hi> heraus. Es enthält eine<lb/>
etwas weit&#x017F;chweifige Dar&#x017F;tellung von P. <hi rendition="#g">de Candolle</hi>'s Symmetrielehre<lb/>
in Verbindung mit <hi rendition="#g">Goethe</hi>'s Metamorpho&#x017F;entheorie und <hi rendition="#g">Schimper</hi>'s<lb/>
Blatt&#x017F;tellungslehre, überhaupt der damals geltenden vergleichenden Morpho-<lb/>
logie, welche &#x017F;chließlich zu einer Theorie der Sy&#x017F;tematik benutzt wird. Das<lb/>
umfangreiche Werk enthält bei weitem weniger Fehler als Lindley's theore-<lb/>
ti&#x017F;ches Vorwort, i&#x017F;t aber auch weniger tief und berührt die Fundamen-<lb/>
talfragen, die uns hier intere&#x017F;&#x017F;iren, nur nebenbei; es i&#x017F;t aber in&#x017F;oferne von<lb/>
hi&#x017F;tori&#x017F;chem Intere&#x017F;&#x017F;e, als es den Zu&#x017F;tand der Morphologie vor 1840 in<lb/>
klarer und &#x017F;ehr über&#x017F;ichtlicher Form dar&#x017F;tellt.</note>. Aber auch nur in die&#x017F;em Streben liegt &#x017F;ein<lb/>
Verdien&#x017F;t, denn die Grund&#x017F;ätze &#x017F;elb&#x017F;t, welche er auf&#x017F;tellte, &#x017F;ind<lb/>
zum größten Theil nicht nur ganz unrichtig, &#x017F;ondern &#x017F;ie wider-<lb/>
&#x017F;prechen durchaus dem von ihm &#x017F;elb&#x017F;t aufge&#x017F;tellten, wie jedem<lb/>
anderen natürlichen Sy&#x017F;tem. In viel höherem Grade, als bei<lb/><hi rendition="#g">De Candolle</hi> finden wir bei <hi rendition="#g">Lindley</hi> den Gegen&#x017F;atz zwi&#x017F;chen<lb/>
der eigenen Theorie und der practi&#x017F;chen Bethätigung bei der<lb/>
Auf&#x017F;tellung des Sy&#x017F;tems; nur i&#x017F;t der Fall in&#x017F;ofern ein anderer,<lb/>
als <hi rendition="#g">De Candolle</hi> zwar richtige Principien für die Beurtheilung<lb/>
der Verwandt&#x017F;chaft auf&#x017F;tellte, die&#x017F;e aber zum Theil nicht befolgte,<lb/>
während dagegen <hi rendition="#g">Lindley</hi> aus den vorhandenen, bereits vielfach<lb/>
fe&#x017F;tge&#x017F;tellten natürlichen Verwandt&#x017F;chaften ganz unrichtige Regeln<lb/>
der Sy&#x017F;tematik ableitete: obgleich die Betrachtung aller bis zum<lb/>
Jahre 1853 aufge&#x017F;tellten Sy&#x017F;teme ganz deutlich zeigt, daß die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Sachs</hi>, Ge&#x017F;chichte der Botanik. 11</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[161/0173] Dogma von der Conſtanz der Arten. Syſtematiker ſelbſt gewöhnlich nur einem dunklen Gefühl bei der Aufſtellung ihrer Gruppen folgten, ohne ſich die Gründe ihres Thuns logiſch klar zu entwickeln. In dieſer Beziehung iſt John Lindley 1) inſofern als rühmliche Ausnahme zu nennen, als er wiederholt ſeit 1830 ausführlich über die Grundſätze der natürlichen Claſſification ſich ausſprach und ähnlich wie es De Candolle gethan hatte, eine Theorie der Syſtematik zu ent- wickeln ſuchte 2). Aber auch nur in dieſem Streben liegt ſein Verdienſt, denn die Grundſätze ſelbſt, welche er aufſtellte, ſind zum größten Theil nicht nur ganz unrichtig, ſondern ſie wider- ſprechen durchaus dem von ihm ſelbſt aufgeſtellten, wie jedem anderen natürlichen Syſtem. In viel höherem Grade, als bei De Candolle finden wir bei Lindley den Gegenſatz zwiſchen der eigenen Theorie und der practiſchen Bethätigung bei der Aufſtellung des Syſtems; nur iſt der Fall inſofern ein anderer, als De Candolle zwar richtige Principien für die Beurtheilung der Verwandtſchaft aufſtellte, dieſe aber zum Theil nicht befolgte, während dagegen Lindley aus den vorhandenen, bereits vielfach feſtgeſtellten natürlichen Verwandtſchaften ganz unrichtige Regeln der Syſtematik ableitete: obgleich die Betrachtung aller bis zum Jahre 1853 aufgeſtellten Syſteme ganz deutlich zeigt, daß die 1) John Lindley, Profeſſor der Botanik in London, geb. in Chatton bei Norwich 1799, geſt. zu London 1865. 2) Auguſte de Saint-Hilaire (geb. Orleans 1779, geſt. daſelbſt 1853, Profeſſor in Paris) gab 1840 lecons de Botanique comprenant principalement la Morphologie végétale etc. heraus. Es enthält eine etwas weitſchweifige Darſtellung von P. de Candolle's Symmetrielehre in Verbindung mit Goethe's Metamorphoſentheorie und Schimper's Blattſtellungslehre, überhaupt der damals geltenden vergleichenden Morpho- logie, welche ſchließlich zu einer Theorie der Syſtematik benutzt wird. Das umfangreiche Werk enthält bei weitem weniger Fehler als Lindley's theore- tiſches Vorwort, iſt aber auch weniger tief und berührt die Fundamen- talfragen, die uns hier intereſſiren, nur nebenbei; es iſt aber inſoferne von hiſtoriſchem Intereſſe, als es den Zuſtand der Morphologie vor 1840 in klarer und ſehr überſichtlicher Form darſtellt. Sachs, Geſchichte der Botanik. 11

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875/173
Zitationshilfe: Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875/173>, abgerufen am 06.05.2024.