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Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877.

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Sie erwiederte nichts und brachte nur langsam die Hand
vor die Brust.

"Und auch Gefühl und Verständniß für so Manches, das
unbeachtet und ungekannt an Ihnen vorüber zieht, liegt in
Ihrem Wesen", fuhr ich fort. "Aber es hat noch Niemand
das lösende Wort zu sprechen gewußt, und so blieb Ihrem
Sinne bis jetzt die Bedeutung des Lebens verschlossen und all
Ihr innerer Reichthum Ihnen selbst ein Geheimniß."

"Es ist wahr", sagte sie, kaum vernehmlich, "ich fühle
mich oft so beengt und ringe nach Etwas, das ich nicht nennen
kann -- --" Ach Freund, es war wunderbar, wie sie da¬
saß, die schmale Hand am Herzen, den Blick zu Boden ge¬
richtet. Sie war ganz bleich geworden und ihr zarter Busen
hob und senkte sich leise. Und mich überkam's, ihr zu sagen,
daß es die Liebe sei, nach der sie ringe und die allein dem
Weibe die Welt in ihrer Unendlichkeit erschließt -- aber ein
Blick auf das lauschende Kind zu ihren Füßen dämmte meine
wogende Seele zurück und ich schwieg. So entstand eine tiefe
Stille; Erni sah mit klugen braunen Augen forschend zu uns
empor und man konnte das Summen einer Wespe vernehmen,
die uns in immer engeren Kreisen umflog. Plötzlich stieß
Marianne einen leichten Schrei aus und fuhr mit der Hand
nach der Wange. Das geflügelte Thierchen war ihr nahe ge¬
kommen und hatte sie unterhalb des rechten Auges gestochen;
ein kleines, rothumrändertes Bläschen zeigte sich. Ich eilte

Sie erwiederte nichts und brachte nur langſam die Hand
vor die Bruſt.

„Und auch Gefühl und Verſtändniß für ſo Manches, das
unbeachtet und ungekannt an Ihnen vorüber zieht, liegt in
Ihrem Weſen“, fuhr ich fort. „Aber es hat noch Niemand
das löſende Wort zu ſprechen gewußt, und ſo blieb Ihrem
Sinne bis jetzt die Bedeutung des Lebens verſchloſſen und all
Ihr innerer Reichthum Ihnen ſelbſt ein Geheimniß.“

„Es iſt wahr“, ſagte ſie, kaum vernehmlich, „ich fühle
mich oft ſo beengt und ringe nach Etwas, das ich nicht nennen
kann — —“ Ach Freund, es war wunderbar, wie ſie da¬
ſaß, die ſchmale Hand am Herzen, den Blick zu Boden ge¬
richtet. Sie war ganz bleich geworden und ihr zarter Buſen
hob und ſenkte ſich leiſe. Und mich überkam's, ihr zu ſagen,
daß es die Liebe ſei, nach der ſie ringe und die allein dem
Weibe die Welt in ihrer Unendlichkeit erſchließt — aber ein
Blick auf das lauſchende Kind zu ihren Füßen dämmte meine
wogende Seele zurück und ich ſchwieg. So entſtand eine tiefe
Stille; Erni ſah mit klugen braunen Augen forſchend zu uns
empor und man konnte das Summen einer Wespe vernehmen,
die uns in immer engeren Kreiſen umflog. Plötzlich ſtieß
Marianne einen leichten Schrei aus und fuhr mit der Hand
nach der Wange. Das geflügelte Thierchen war ihr nahe ge¬
kommen und hatte ſie unterhalb des rechten Auges geſtochen;
ein kleines, rothumrändertes Bläschen zeigte ſich. Ich eilte

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[105/0121] Sie erwiederte nichts und brachte nur langſam die Hand vor die Bruſt. „Und auch Gefühl und Verſtändniß für ſo Manches, das unbeachtet und ungekannt an Ihnen vorüber zieht, liegt in Ihrem Weſen“, fuhr ich fort. „Aber es hat noch Niemand das löſende Wort zu ſprechen gewußt, und ſo blieb Ihrem Sinne bis jetzt die Bedeutung des Lebens verſchloſſen und all Ihr innerer Reichthum Ihnen ſelbſt ein Geheimniß.“ „Es iſt wahr“, ſagte ſie, kaum vernehmlich, „ich fühle mich oft ſo beengt und ringe nach Etwas, das ich nicht nennen kann — —“ Ach Freund, es war wunderbar, wie ſie da¬ ſaß, die ſchmale Hand am Herzen, den Blick zu Boden ge¬ richtet. Sie war ganz bleich geworden und ihr zarter Buſen hob und ſenkte ſich leiſe. Und mich überkam's, ihr zu ſagen, daß es die Liebe ſei, nach der ſie ringe und die allein dem Weibe die Welt in ihrer Unendlichkeit erſchließt — aber ein Blick auf das lauſchende Kind zu ihren Füßen dämmte meine wogende Seele zurück und ich ſchwieg. So entſtand eine tiefe Stille; Erni ſah mit klugen braunen Augen forſchend zu uns empor und man konnte das Summen einer Wespe vernehmen, die uns in immer engeren Kreiſen umflog. Plötzlich ſtieß Marianne einen leichten Schrei aus und fuhr mit der Hand nach der Wange. Das geflügelte Thierchen war ihr nahe ge¬ kommen und hatte ſie unterhalb des rechten Auges geſtochen; ein kleines, rothumrändertes Bläschen zeigte ſich. Ich eilte

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Zitationshilfe: Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/121>, abgerufen am 24.11.2024.