Studien und Gemälde, welche gemeiniglich der florentinischen Epoche Raphaels untergeordnet werden. Allein es darf uns nicht eben befremden, daß in jener denkwürdigen Epoche des Ringens nach höchster Kraftentwickelung zwey entgegengesetzte Richtungen einander sich durchkreuzend begleiten: angestrengtes Studium und freyer Versuch selbstständiger Kraft. Denn, genau genommen, sollte jegliche fruchtbare Geistesentwickelung gleiche oder ähnliche Symptome zeigen, wenn auch nicht noth- wendig, wie Raphaels, in so vielen gänzlich verschiedenen Pro- ductionen. Es scheint, daß Raphael, von Anbeginn darauf bedacht, in jedem einzelnen Bilde etwas Brauchbares und Preiswürdiges zu leisten, absichtlich vermieden habe, in dem- selben Gemälde widerstrebende Richtungen zu vereinigen; der Harmonie willen vorgezogen, das eine streng und gründlich, das andere leicht und geistreich zu behandeln; auf diese Weise zugleich den billigen Ansprüchen der Besteller und dem Be- dürfniß seiner künstlerischen Entwickelung habe entsprechen wollen.
Die früheste Spur muthiger Erprobung dessen, was der junge Meister ohne erhebliches Studium durch eigene Kraft vermöge, scheint in der bekannten Krönung der Jungfrau her- vorzutreten, welche vordem in S. Francesco zu Perugia, jetzt zu Rom in der vaticanischen Gallerie. Vasari erwähnt die- ser Tafel als einer, nach seiner Erinnerung, täuschenden Nach- ahmung des Perugino, vor allen anderen Gemälden Raphaels; doch bleibt es undeutlich, ob er sie auch, wie Lanzi ihn zu verstehen scheint, für das älteste gehalten. Das letzte könnte man ihm nicht wohl einräumen, das erste ebenfalls nur be- dingungsweise. Denn es vereinigt dieses Bild auf eine räth- selhafte Weise wiederaufsteigende Erinnerungen aus dem frü-
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Studien und Gemaͤlde, welche gemeiniglich der florentiniſchen Epoche Raphaels untergeordnet werden. Allein es darf uns nicht eben befremden, daß in jener denkwuͤrdigen Epoche des Ringens nach hoͤchſter Kraftentwickelung zwey entgegengeſetzte Richtungen einander ſich durchkreuzend begleiten: angeſtrengtes Studium und freyer Verſuch ſelbſtſtaͤndiger Kraft. Denn, genau genommen, ſollte jegliche fruchtbare Geiſtesentwickelung gleiche oder aͤhnliche Symptome zeigen, wenn auch nicht noth- wendig, wie Raphaels, in ſo vielen gaͤnzlich verſchiedenen Pro- ductionen. Es ſcheint, daß Raphael, von Anbeginn darauf bedacht, in jedem einzelnen Bilde etwas Brauchbares und Preiswuͤrdiges zu leiſten, abſichtlich vermieden habe, in dem- ſelben Gemaͤlde widerſtrebende Richtungen zu vereinigen; der Harmonie willen vorgezogen, das eine ſtreng und gruͤndlich, das andere leicht und geiſtreich zu behandeln; auf dieſe Weiſe zugleich den billigen Anſpruͤchen der Beſteller und dem Be- duͤrfniß ſeiner kuͤnſtleriſchen Entwickelung habe entſprechen wollen.
Die fruͤheſte Spur muthiger Erprobung deſſen, was der junge Meiſter ohne erhebliches Studium durch eigene Kraft vermoͤge, ſcheint in der bekannten Kroͤnung der Jungfrau her- vorzutreten, welche vordem in S. Francesco zu Perugia, jetzt zu Rom in der vaticaniſchen Gallerie. Vaſari erwaͤhnt die- ſer Tafel als einer, nach ſeiner Erinnerung, taͤuſchenden Nach- ahmung des Perugino, vor allen anderen Gemaͤlden Raphaels; doch bleibt es undeutlich, ob er ſie auch, wie Lanzi ihn zu verſtehen ſcheint, fuͤr das aͤlteſte gehalten. Das letzte koͤnnte man ihm nicht wohl einraͤumen, das erſte ebenfalls nur be- dingungsweiſe. Denn es vereinigt dieſes Bild auf eine raͤth- ſelhafte Weiſe wiederaufſteigende Erinnerungen aus dem fruͤ-
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Studien und Gemaͤlde, welche gemeiniglich der florentiniſchen
Epoche Raphaels untergeordnet werden. Allein es darf uns
nicht eben befremden, daß in jener denkwuͤrdigen Epoche des
Ringens nach hoͤchſter Kraftentwickelung zwey entgegengeſetzte
Richtungen einander ſich durchkreuzend begleiten: angeſtrengtes
Studium und freyer Verſuch ſelbſtſtaͤndiger Kraft. Denn,
genau genommen, ſollte jegliche fruchtbare Geiſtesentwickelung
gleiche oder aͤhnliche Symptome zeigen, wenn auch nicht noth-
wendig, wie Raphaels, in ſo vielen gaͤnzlich verſchiedenen Pro-
ductionen. Es ſcheint, daß Raphael, von Anbeginn darauf
bedacht, in jedem einzelnen Bilde etwas Brauchbares und
Preiswuͤrdiges zu leiſten, abſichtlich vermieden habe, in dem-
ſelben Gemaͤlde widerſtrebende Richtungen zu vereinigen; der
Harmonie willen vorgezogen, das eine ſtreng und gruͤndlich,
das andere leicht und geiſtreich zu behandeln; auf dieſe Weiſe
zugleich den billigen Anſpruͤchen der Beſteller und dem Be-
duͤrfniß ſeiner kuͤnſtleriſchen Entwickelung habe entſprechen
wollen.
Die fruͤheſte Spur muthiger Erprobung deſſen, was der
junge Meiſter ohne erhebliches Studium durch eigene Kraft
vermoͤge, ſcheint in der bekannten Kroͤnung der Jungfrau her-
vorzutreten, welche vordem in S. Francesco zu Perugia, jetzt
zu Rom in der vaticaniſchen Gallerie. Vaſari erwaͤhnt die-
ſer Tafel als einer, nach ſeiner Erinnerung, taͤuſchenden Nach-
ahmung des Perugino, vor allen anderen Gemaͤlden Raphaels;
doch bleibt es undeutlich, ob er ſie auch, wie Lanzi ihn zu
verſtehen ſcheint, fuͤr das aͤlteſte gehalten. Das letzte koͤnnte
man ihm nicht wohl einraͤumen, das erſte ebenfalls nur be-
dingungsweiſe. Denn es vereinigt dieſes Bild auf eine raͤth-
ſelhafte Weiſe wiederaufſteigende Erinnerungen aus dem fruͤ-
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Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen03_1831/73>, abgerufen am 16.07.2024.
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