Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 2. Berlin u. a., 1827.

Bild:
<< vorherige Seite

verlieh, als man vor ihm in den Gemälden wahrzunehmen
gewohnt war, den Beyfall und die Bewunderung seiner Zeit-
genossen, besonders jedoch der Florentiner erworben und in
gewissem Sinne wirklich verdient hatte. Doch da die Entfer-
nung einen Ueberblick gewährt, welcher den nahe stehenden
versagt ist, so entdeckten wir, was seinen Zeitgenossen entgehen
mußte, daß Giotto, indem er die Kunst wenigstens in seiner
Schule zum Lebendigen und Thätigen lenkte, auch jene all-
mählich fortschreitende und immer zunehmende Entfremdung
von den Ideen des christlichen Alterthumes beförderte, welche
bis auf Lionardo und Raphael die florentinische Schule und
alle Künstler, welche sich ihr angeschlossen, etwa mit Aus-
nahme des Fiesole und des Masaccio, bezeichnet und unter-
scheidet. Er führte Affect und Handlung in die Kunst ein
und hätte vielleicht auch den Charakter hinzugefügt, wäre es
schon an der Zeit gewesen, sich mit physiognomischen Unter-
scheidungen abzugeben. Doch, indem er über die mannichfal-
tigsten Lebensverhältnisse sich verbreitete, that er, so viel an
ihm lag, genug, um seiner Schule die Richtung auf Hand-
lung zu geben, welche ihr einige Jahrhunderte hindurch zu
eigen geblieben.

Unter diesen Umständen weiß ich nicht, was Einige wol-
len, welche sich mit aller Kraft daran gesetzt haben, die Rich-
tung und Leistung des Giotto als das Erhabenste der neue-
ren Kunst auszupreisen. Meinten sie, daß er ein lebendiger,
geistreicher, beobachtender, nachdenkender Künstler gewesen, so
dürften wir übereinstimmen. Doch fürchte ich, daß sie wäh-
nen, er habe eben solche Ideen, welche die Seele der christ-
lichen Kunstbestrebungen sind, in besonderer Tiefe und Rein-
heit aufgefaßt; und hierin dürften sie im Irrthum seyn, wenn

verlieh, als man vor ihm in den Gemaͤlden wahrzunehmen
gewohnt war, den Beyfall und die Bewunderung ſeiner Zeit-
genoſſen, beſonders jedoch der Florentiner erworben und in
gewiſſem Sinne wirklich verdient hatte. Doch da die Entfer-
nung einen Ueberblick gewaͤhrt, welcher den nahe ſtehenden
verſagt iſt, ſo entdeckten wir, was ſeinen Zeitgenoſſen entgehen
mußte, daß Giotto, indem er die Kunſt wenigſtens in ſeiner
Schule zum Lebendigen und Thaͤtigen lenkte, auch jene all-
maͤhlich fortſchreitende und immer zunehmende Entfremdung
von den Ideen des chriſtlichen Alterthumes befoͤrderte, welche
bis auf Lionardo und Raphael die florentiniſche Schule und
alle Kuͤnſtler, welche ſich ihr angeſchloſſen, etwa mit Aus-
nahme des Fieſole und des Maſaccio, bezeichnet und unter-
ſcheidet. Er fuͤhrte Affect und Handlung in die Kunſt ein
und haͤtte vielleicht auch den Charakter hinzugefuͤgt, waͤre es
ſchon an der Zeit geweſen, ſich mit phyſiognomiſchen Unter-
ſcheidungen abzugeben. Doch, indem er uͤber die mannichfal-
tigſten Lebensverhaͤltniſſe ſich verbreitete, that er, ſo viel an
ihm lag, genug, um ſeiner Schule die Richtung auf Hand-
lung zu geben, welche ihr einige Jahrhunderte hindurch zu
eigen geblieben.

Unter dieſen Umſtaͤnden weiß ich nicht, was Einige wol-
len, welche ſich mit aller Kraft daran geſetzt haben, die Rich-
tung und Leiſtung des Giotto als das Erhabenſte der neue-
ren Kunſt auszupreiſen. Meinten ſie, daß er ein lebendiger,
geiſtreicher, beobachtender, nachdenkender Kuͤnſtler geweſen, ſo
duͤrften wir uͤbereinſtimmen. Doch fuͤrchte ich, daß ſie waͤh-
nen, er habe eben ſolche Ideen, welche die Seele der chriſt-
lichen Kunſtbeſtrebungen ſind, in beſonderer Tiefe und Rein-
heit aufgefaßt; und hierin duͤrften ſie im Irrthum ſeyn, wenn

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0091" n="73"/>
verlieh, als man vor ihm in den Gema&#x0364;lden wahrzunehmen<lb/>
gewohnt war, den Beyfall und die Bewunderung &#x017F;einer Zeit-<lb/>
geno&#x017F;&#x017F;en, be&#x017F;onders jedoch der Florentiner erworben und in<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;em Sinne wirklich verdient hatte. Doch da die Entfer-<lb/>
nung einen Ueberblick gewa&#x0364;hrt, welcher den nahe &#x017F;tehenden<lb/>
ver&#x017F;agt i&#x017F;t, &#x017F;o entdeckten wir, was &#x017F;einen Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en entgehen<lb/>
mußte, daß <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118539477">Giotto</persName>, indem er die Kun&#x017F;t wenig&#x017F;tens in <hi rendition="#g">&#x017F;einer</hi><lb/>
Schule zum Lebendigen und Tha&#x0364;tigen lenkte, auch jene all-<lb/>
ma&#x0364;hlich fort&#x017F;chreitende und immer zunehmende Entfremdung<lb/>
von den Ideen des chri&#x017F;tlichen Alterthumes befo&#x0364;rderte, welche<lb/>
bis auf <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118640445">Lionardo</persName> und <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118597787">Raphael</persName> die florentini&#x017F;che Schule und<lb/>
alle Ku&#x0364;n&#x017F;tler, welche &#x017F;ich ihr ange&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, etwa mit Aus-<lb/>
nahme des <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118503081">Fie&#x017F;ole</persName> und des <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118578618">Ma&#x017F;accio</persName>, bezeichnet und unter-<lb/>
&#x017F;cheidet. Er fu&#x0364;hrte Affect und Handlung in die Kun&#x017F;t ein<lb/>
und ha&#x0364;tte vielleicht auch den Charakter hinzugefu&#x0364;gt, wa&#x0364;re es<lb/>
&#x017F;chon an der Zeit gewe&#x017F;en, &#x017F;ich mit phy&#x017F;iognomi&#x017F;chen Unter-<lb/>
&#x017F;cheidungen abzugeben. Doch, indem er u&#x0364;ber die mannichfal-<lb/>
tig&#x017F;ten Lebensverha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ich verbreitete, that er, &#x017F;o viel an<lb/>
ihm lag, genug, um &#x017F;einer Schule die Richtung auf Hand-<lb/>
lung zu geben, welche ihr einige Jahrhunderte hindurch zu<lb/>
eigen geblieben.</p><lb/>
          <p>Unter die&#x017F;en Um&#x017F;ta&#x0364;nden weiß ich nicht, was Einige wol-<lb/>
len, welche &#x017F;ich mit aller Kraft daran ge&#x017F;etzt haben, die Rich-<lb/>
tung und Lei&#x017F;tung des <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118539477">Giotto</persName> als das Erhaben&#x017F;te der neue-<lb/>
ren Kun&#x017F;t auszuprei&#x017F;en. Meinten &#x017F;ie, daß er ein lebendiger,<lb/>
gei&#x017F;treicher, beobachtender, nachdenkender Ku&#x0364;n&#x017F;tler gewe&#x017F;en, &#x017F;o<lb/>
du&#x0364;rften wir u&#x0364;berein&#x017F;timmen. Doch fu&#x0364;rchte ich, daß &#x017F;ie wa&#x0364;h-<lb/>
nen, er habe eben &#x017F;olche Ideen, welche die Seele der chri&#x017F;t-<lb/>
lichen Kun&#x017F;tbe&#x017F;trebungen &#x017F;ind, in be&#x017F;onderer Tiefe und Rein-<lb/>
heit aufgefaßt; und hierin du&#x0364;rften &#x017F;ie im Irrthum &#x017F;eyn, wenn<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0091] verlieh, als man vor ihm in den Gemaͤlden wahrzunehmen gewohnt war, den Beyfall und die Bewunderung ſeiner Zeit- genoſſen, beſonders jedoch der Florentiner erworben und in gewiſſem Sinne wirklich verdient hatte. Doch da die Entfer- nung einen Ueberblick gewaͤhrt, welcher den nahe ſtehenden verſagt iſt, ſo entdeckten wir, was ſeinen Zeitgenoſſen entgehen mußte, daß Giotto, indem er die Kunſt wenigſtens in ſeiner Schule zum Lebendigen und Thaͤtigen lenkte, auch jene all- maͤhlich fortſchreitende und immer zunehmende Entfremdung von den Ideen des chriſtlichen Alterthumes befoͤrderte, welche bis auf Lionardo und Raphael die florentiniſche Schule und alle Kuͤnſtler, welche ſich ihr angeſchloſſen, etwa mit Aus- nahme des Fieſole und des Maſaccio, bezeichnet und unter- ſcheidet. Er fuͤhrte Affect und Handlung in die Kunſt ein und haͤtte vielleicht auch den Charakter hinzugefuͤgt, waͤre es ſchon an der Zeit geweſen, ſich mit phyſiognomiſchen Unter- ſcheidungen abzugeben. Doch, indem er uͤber die mannichfal- tigſten Lebensverhaͤltniſſe ſich verbreitete, that er, ſo viel an ihm lag, genug, um ſeiner Schule die Richtung auf Hand- lung zu geben, welche ihr einige Jahrhunderte hindurch zu eigen geblieben. Unter dieſen Umſtaͤnden weiß ich nicht, was Einige wol- len, welche ſich mit aller Kraft daran geſetzt haben, die Rich- tung und Leiſtung des Giotto als das Erhabenſte der neue- ren Kunſt auszupreiſen. Meinten ſie, daß er ein lebendiger, geiſtreicher, beobachtender, nachdenkender Kuͤnſtler geweſen, ſo duͤrften wir uͤbereinſtimmen. Doch fuͤrchte ich, daß ſie waͤh- nen, er habe eben ſolche Ideen, welche die Seele der chriſt- lichen Kunſtbeſtrebungen ſind, in beſonderer Tiefe und Rein- heit aufgefaßt; und hierin duͤrften ſie im Irrthum ſeyn, wenn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen02_1827
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen02_1827/91
Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 2. Berlin u. a., 1827, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen02_1827/91>, abgerufen am 21.11.2024.