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Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 2. Berlin u. a., 1827.

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treffen wir bey wohl hundert Figuren überall auf denselben
allgemeinen Kopf *), der bey größter Verschiedenheit des Al-
ters und himmlischen Ranges doch immer wiederkehrt und
nicht einmal an sich selbst gefällig ist. Die Augen enthalten
keine Spur von Verkürzung und Rundung, sind lang und
schmal und durch zwey gleichlaufende und ganz grade Umrisse
begrenzt und gegen die Nasenwurzel hin unsäglich nahe zu-
sammengedrängt. Die Nasen sind, obwohl von sehr vollstän-
diger Länge, doch im Profile abgestumpft und ohne zureichende
Ausladung; die Kinnlade ist schmal und kantig, das Kinn
vorgedrängt. Die übrigen Formen der menschlichen Gestalt
kommen voraussetzlich nicht in Betrachtung; hingegen ist die
Gewandung hier, wie überall bey Unterscheidung der ältesten
Meister, von besonderem Belang.

Die älteren Maler waren in der Zeichnung und Model-
lirung des Gefältes guten, ursprünglich antiken Mustern ge-
folgt und hatten ihren Sinn für die Schönheit und Richtig-
keit dieses Theiles ihrer Ausführungen hinreichend geschärft,
um auch Solches, so sie aus eigner Erfindung hinzugefügt,
verständig und sicher auszubilden. Giotto hingegen, welcher
die Nachahmung jener Muster ganz aufgegeben, war auf der
anderen Seite in der Auffassung und Nachbildung natürlicher
Erscheinungen zu ungeübt, um aus sich selbst dem Gefälte
den jedesmal richtigen Lauf und Gang, seinen Ausgängen die
gehörige Schärfe zu geben. Doch führte ihn ein allgemeiner
malerischer Sinn darauf hin, die Durchschneidung der Licht-

*) S. Jen. Lit. Zeitg. 1813. Col. 135., wo in einer Rec., welche
die Hand eines Kenners verräth, dieselbe Bemerkung erschöpfender
ausgesprochen ist.

treffen wir bey wohl hundert Figuren uͤberall auf denſelben
allgemeinen Kopf *), der bey groͤßter Verſchiedenheit des Al-
ters und himmliſchen Ranges doch immer wiederkehrt und
nicht einmal an ſich ſelbſt gefaͤllig iſt. Die Augen enthalten
keine Spur von Verkuͤrzung und Rundung, ſind lang und
ſchmal und durch zwey gleichlaufende und ganz grade Umriſſe
begrenzt und gegen die Naſenwurzel hin unſaͤglich nahe zu-
ſammengedraͤngt. Die Naſen ſind, obwohl von ſehr vollſtaͤn-
diger Laͤnge, doch im Profile abgeſtumpft und ohne zureichende
Ausladung; die Kinnlade iſt ſchmal und kantig, das Kinn
vorgedraͤngt. Die uͤbrigen Formen der menſchlichen Geſtalt
kommen vorausſetzlich nicht in Betrachtung; hingegen iſt die
Gewandung hier, wie uͤberall bey Unterſcheidung der aͤlteſten
Meiſter, von beſonderem Belang.

Die aͤlteren Maler waren in der Zeichnung und Model-
lirung des Gefaͤltes guten, urſpruͤnglich antiken Muſtern ge-
folgt und hatten ihren Sinn fuͤr die Schoͤnheit und Richtig-
keit dieſes Theiles ihrer Ausfuͤhrungen hinreichend geſchaͤrft,
um auch Solches, ſo ſie aus eigner Erfindung hinzugefuͤgt,
verſtaͤndig und ſicher auszubilden. Giotto hingegen, welcher
die Nachahmung jener Muſter ganz aufgegeben, war auf der
anderen Seite in der Auffaſſung und Nachbildung natuͤrlicher
Erſcheinungen zu ungeuͤbt, um aus ſich ſelbſt dem Gefaͤlte
den jedesmal richtigen Lauf und Gang, ſeinen Ausgaͤngen die
gehoͤrige Schaͤrfe zu geben. Doch fuͤhrte ihn ein allgemeiner
maleriſcher Sinn darauf hin, die Durchſchneidung der Licht-

*) S. Jen. Lit. Zeitg. 1813. Col. 135., wo in einer Rec., welche
die Hand eines Kenners verraͤth, dieſelbe Bemerkung erſchoͤpfender
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[62/0080] treffen wir bey wohl hundert Figuren uͤberall auf denſelben allgemeinen Kopf *), der bey groͤßter Verſchiedenheit des Al- ters und himmliſchen Ranges doch immer wiederkehrt und nicht einmal an ſich ſelbſt gefaͤllig iſt. Die Augen enthalten keine Spur von Verkuͤrzung und Rundung, ſind lang und ſchmal und durch zwey gleichlaufende und ganz grade Umriſſe begrenzt und gegen die Naſenwurzel hin unſaͤglich nahe zu- ſammengedraͤngt. Die Naſen ſind, obwohl von ſehr vollſtaͤn- diger Laͤnge, doch im Profile abgeſtumpft und ohne zureichende Ausladung; die Kinnlade iſt ſchmal und kantig, das Kinn vorgedraͤngt. Die uͤbrigen Formen der menſchlichen Geſtalt kommen vorausſetzlich nicht in Betrachtung; hingegen iſt die Gewandung hier, wie uͤberall bey Unterſcheidung der aͤlteſten Meiſter, von beſonderem Belang. Die aͤlteren Maler waren in der Zeichnung und Model- lirung des Gefaͤltes guten, urſpruͤnglich antiken Muſtern ge- folgt und hatten ihren Sinn fuͤr die Schoͤnheit und Richtig- keit dieſes Theiles ihrer Ausfuͤhrungen hinreichend geſchaͤrft, um auch Solches, ſo ſie aus eigner Erfindung hinzugefuͤgt, verſtaͤndig und ſicher auszubilden. Giotto hingegen, welcher die Nachahmung jener Muſter ganz aufgegeben, war auf der anderen Seite in der Auffaſſung und Nachbildung natuͤrlicher Erſcheinungen zu ungeuͤbt, um aus ſich ſelbſt dem Gefaͤlte den jedesmal richtigen Lauf und Gang, ſeinen Ausgaͤngen die gehoͤrige Schaͤrfe zu geben. Doch fuͤhrte ihn ein allgemeiner maleriſcher Sinn darauf hin, die Durchſchneidung der Licht- *) S. Jen. Lit. Zeitg. 1813. Col. 135., wo in einer Rec., welche die Hand eines Kenners verraͤth, dieſelbe Bemerkung erſchoͤpfender ausgeſprochen iſt.

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Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 2. Berlin u. a., 1827, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen02_1827/80>, abgerufen am 03.05.2024.