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Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 1. Berlin u. a., 1827.

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des Körpers, welches in der einen Woche am Todten erklärt
und in seine Theile zerlegt dem Künstler bis in seine verbor-
gensten Fügungen bekannt geworden, in der nachfolgenden
Woche allein entblößt werden, um an dem lebendigen Vor-
bilde nun auch die Bestimmung und Handlung und äußere
Erscheinung des eben Erlernten aufzufassen. Dieses müßte
voraussetzlich nicht nach den gerade vorgefaßten Ansichten vom
Malerischen, sondern einzig nach der Empfindung und Ge-
wöhnung des Menschen, der eben zum Vorbilde dient, in alle
erdenkliche Richtungen, Lagen und Bewegungen gebracht, und
von dem Schüler seinerseits aus dem verschiedensten Gesichts-
punkte aufgefaßt und nachgezeichnet werden. Allerdings dürfte
Solches bey vollem Tageslichte geschehen müssen; denn der
Punkt, von welchem das so häufig angewendete künstliche Licht
ausströmt, steht dem Modell unausweichlich so nahe, daß die
Strahlen viele vorragende Theile umfließen, und daher dem
ungeübten Auge vieles als eine Fläche erscheinen machen, was
wirklich schon Abänderungen der Form enthält; unangesehen,
daß die Nachtbeleuchtung jederzeit der deutlichen Reflexe ent-
behrt, mithin die ganze Schattenseite der Beobachtung unzu-
gänglich macht. Wäre dann der menschliche Körper auf die
angegebene Weise seinen Theilen nach gründlich durchgenom-
men worden, so möchte es endlich an der Zeit seyn, auch auf
das Ganze zu gehen, und abwechselnd die Gestalt auch in
ihrem Zusammenhange und mehr in Hinsicht ihrer allgemeine-
ren Verhältnisse und Vergliederungen nachzuzeichnen. Wollte
man alsdann noch weiter gehen, und den Lehrling auch in
schneller Auffassung der Bewegung und Handlung üben, so
müßte dem Vorbilde die Wahl der Stellungen überlassen blei-
ben, damit nichts Erzwungenes zum Vorschein komme; damit

des Koͤrpers, welches in der einen Woche am Todten erklaͤrt
und in ſeine Theile zerlegt dem Kuͤnſtler bis in ſeine verbor-
genſten Fuͤgungen bekannt geworden, in der nachfolgenden
Woche allein entbloͤßt werden, um an dem lebendigen Vor-
bilde nun auch die Beſtimmung und Handlung und aͤußere
Erſcheinung des eben Erlernten aufzufaſſen. Dieſes muͤßte
vorausſetzlich nicht nach den gerade vorgefaßten Anſichten vom
Maleriſchen, ſondern einzig nach der Empfindung und Ge-
woͤhnung des Menſchen, der eben zum Vorbilde dient, in alle
erdenkliche Richtungen, Lagen und Bewegungen gebracht, und
von dem Schuͤler ſeinerſeits aus dem verſchiedenſten Geſichts-
punkte aufgefaßt und nachgezeichnet werden. Allerdings duͤrfte
Solches bey vollem Tageslichte geſchehen muͤſſen; denn der
Punkt, von welchem das ſo haͤufig angewendete kuͤnſtliche Licht
ausſtroͤmt, ſteht dem Modell unausweichlich ſo nahe, daß die
Strahlen viele vorragende Theile umfließen, und daher dem
ungeuͤbten Auge vieles als eine Flaͤche erſcheinen machen, was
wirklich ſchon Abaͤnderungen der Form enthaͤlt; unangeſehen,
daß die Nachtbeleuchtung jederzeit der deutlichen Reflexe ent-
behrt, mithin die ganze Schattenſeite der Beobachtung unzu-
gaͤnglich macht. Waͤre dann der menſchliche Koͤrper auf die
angegebene Weiſe ſeinen Theilen nach gruͤndlich durchgenom-
men worden, ſo moͤchte es endlich an der Zeit ſeyn, auch auf
das Ganze zu gehen, und abwechſelnd die Geſtalt auch in
ihrem Zuſammenhange und mehr in Hinſicht ihrer allgemeine-
ren Verhaͤltniſſe und Vergliederungen nachzuzeichnen. Wollte
man alsdann noch weiter gehen, und den Lehrling auch in
ſchneller Auffaſſung der Bewegung und Handlung uͤben, ſo
muͤßte dem Vorbilde die Wahl der Stellungen uͤberlaſſen blei-
ben, damit nichts Erzwungenes zum Vorſchein komme; damit

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[70/0088] des Koͤrpers, welches in der einen Woche am Todten erklaͤrt und in ſeine Theile zerlegt dem Kuͤnſtler bis in ſeine verbor- genſten Fuͤgungen bekannt geworden, in der nachfolgenden Woche allein entbloͤßt werden, um an dem lebendigen Vor- bilde nun auch die Beſtimmung und Handlung und aͤußere Erſcheinung des eben Erlernten aufzufaſſen. Dieſes muͤßte vorausſetzlich nicht nach den gerade vorgefaßten Anſichten vom Maleriſchen, ſondern einzig nach der Empfindung und Ge- woͤhnung des Menſchen, der eben zum Vorbilde dient, in alle erdenkliche Richtungen, Lagen und Bewegungen gebracht, und von dem Schuͤler ſeinerſeits aus dem verſchiedenſten Geſichts- punkte aufgefaßt und nachgezeichnet werden. Allerdings duͤrfte Solches bey vollem Tageslichte geſchehen muͤſſen; denn der Punkt, von welchem das ſo haͤufig angewendete kuͤnſtliche Licht ausſtroͤmt, ſteht dem Modell unausweichlich ſo nahe, daß die Strahlen viele vorragende Theile umfließen, und daher dem ungeuͤbten Auge vieles als eine Flaͤche erſcheinen machen, was wirklich ſchon Abaͤnderungen der Form enthaͤlt; unangeſehen, daß die Nachtbeleuchtung jederzeit der deutlichen Reflexe ent- behrt, mithin die ganze Schattenſeite der Beobachtung unzu- gaͤnglich macht. Waͤre dann der menſchliche Koͤrper auf die angegebene Weiſe ſeinen Theilen nach gruͤndlich durchgenom- men worden, ſo moͤchte es endlich an der Zeit ſeyn, auch auf das Ganze zu gehen, und abwechſelnd die Geſtalt auch in ihrem Zuſammenhange und mehr in Hinſicht ihrer allgemeine- ren Verhaͤltniſſe und Vergliederungen nachzuzeichnen. Wollte man alsdann noch weiter gehen, und den Lehrling auch in ſchneller Auffaſſung der Bewegung und Handlung uͤben, ſo muͤßte dem Vorbilde die Wahl der Stellungen uͤberlaſſen blei- ben, damit nichts Erzwungenes zum Vorſchein komme; damit

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Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 1. Berlin u. a., 1827, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen01_1827/88>, abgerufen am 27.11.2024.