Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 5. Leipzig, 1839.Geschriebnes Wort, dem Buch vertraut, ist halb verlassen Vom Geist, und halb nur kann der Menschengeist es fassen. Es geht von Hand zu Hand, es kommt von Land zu Land, Und findet, wie sichs trifft, Verstand und Misverstand. Gesprochnes gehet durch erwählter Hörer Runde, Und immer neu belebt geht es von Mund zu Munde. Doch bildet es sich um, je weiter um es geht, Verwandelt sich und schwankt, nur das geschriebne steht. Ja, hätte nicht die Schrift den Zauberkreis gezogen, Viel Gold der Vorzeit wär' im Wind wie Spreu verflogen. Nicht minder drum dem Mund lerndurst'ger Menschenkinder Als Spracherfinder sei geehrt der Schrifterfinder. Wer ists? Gott, dessen Stift an Erd- und Himmelstrift Geschrieben seinen Ruhm in Blum- und Sternenschrift. Auf Tafeln von Lazur und auf smaragdner Flur, Wie im Rubin der Brust, lies seine Namen nur. Geſchriebnes Wort, dem Buch vertraut, iſt halb verlaſſen Vom Geiſt, und halb nur kann der Menſchengeiſt es faſſen. Es geht von Hand zu Hand, es kommt von Land zu Land, Und findet, wie ſichs trifft, Verſtand und Misverſtand. Geſprochnes gehet durch erwaͤhlter Hoͤrer Runde, Und immer neu belebt geht es von Mund zu Munde. Doch bildet es ſich um, je weiter um es geht, Verwandelt ſich und ſchwankt, nur das geſchriebne ſteht. Ja, haͤtte nicht die Schrift den Zauberkreis gezogen, Viel Gold der Vorzeit waͤr' im Wind wie Spreu verflogen. Nicht minder drum dem Mund lerndurſt'ger Menſchenkinder Als Spracherfinder ſei geehrt der Schrifterfinder. Wer iſts? Gott, deſſen Stift an Erd- und Himmelstrift Geſchrieben ſeinen Ruhm in Blum- und Sternenſchrift. Auf Tafeln von Lazur und auf ſmaragdner Flur, Wie im Rubin der Bruſt, lies ſeine Namen nur. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0082" n="72"/> <lg n="6"> <l>Geſchriebnes Wort, dem Buch vertraut, iſt halb verlaſſen</l><lb/> <l>Vom Geiſt, und halb nur kann der Menſchengeiſt es faſſen.</l> </lg><lb/> <lg n="7"> <l>Es geht von Hand zu Hand, es kommt von Land zu Land,</l><lb/> <l>Und findet, wie ſichs trifft, Verſtand und Misverſtand.</l> </lg><lb/> <lg n="8"> <l>Geſprochnes gehet durch erwaͤhlter Hoͤrer Runde,</l><lb/> <l>Und immer neu belebt geht es von Mund zu Munde.</l> </lg><lb/> <lg n="9"> <l>Doch bildet es ſich um, je weiter um es geht,</l><lb/> <l>Verwandelt ſich und ſchwankt, nur das geſchriebne ſteht.</l> </lg><lb/> <lg n="10"> <l>Ja, haͤtte nicht die Schrift den Zauberkreis gezogen,</l><lb/> <l>Viel Gold der Vorzeit waͤr' im Wind wie Spreu verflogen.</l> </lg><lb/> <lg n="11"> <l>Nicht minder drum dem Mund lerndurſt'ger Menſchenkinder</l><lb/> <l>Als Spracherfinder ſei geehrt der Schrifterfinder.</l> </lg><lb/> <lg n="12"> <l>Wer iſts? Gott, deſſen Stift an Erd- und Himmelstrift</l><lb/> <l>Geſchrieben ſeinen Ruhm in Blum- und Sternenſchrift.</l> </lg><lb/> <lg n="13"> <l>Auf Tafeln von Lazur und auf ſmaragdner Flur,</l><lb/> <l>Wie im Rubin der Bruſt, lies ſeine Namen nur.</l> </lg><lb/> </lg> </div> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </body> </text> </TEI> [72/0082]
Geſchriebnes Wort, dem Buch vertraut, iſt halb verlaſſen
Vom Geiſt, und halb nur kann der Menſchengeiſt es faſſen.
Es geht von Hand zu Hand, es kommt von Land zu Land,
Und findet, wie ſichs trifft, Verſtand und Misverſtand.
Geſprochnes gehet durch erwaͤhlter Hoͤrer Runde,
Und immer neu belebt geht es von Mund zu Munde.
Doch bildet es ſich um, je weiter um es geht,
Verwandelt ſich und ſchwankt, nur das geſchriebne ſteht.
Ja, haͤtte nicht die Schrift den Zauberkreis gezogen,
Viel Gold der Vorzeit waͤr' im Wind wie Spreu verflogen.
Nicht minder drum dem Mund lerndurſt'ger Menſchenkinder
Als Spracherfinder ſei geehrt der Schrifterfinder.
Wer iſts? Gott, deſſen Stift an Erd- und Himmelstrift
Geſchrieben ſeinen Ruhm in Blum- und Sternenſchrift.
Auf Tafeln von Lazur und auf ſmaragdner Flur,
Wie im Rubin der Bruſt, lies ſeine Namen nur.
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