Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 5. Leipzig, 1839.52. Der Knabe sitzt am See, und taucht die Ruthe drein; Die außen grade war, scheint innen krumm zu seyn. Er zieht die Ruth' hervor, da ist sie wieder grade, Taucht neu sie drein, und krumm ist sie im Wellenbade. So oft er ein sie taucht, ist sie auch wieder krumm, Und grade, wenn er sie hervorholt wiederum. Der Knabe spricht: du scheinst so lauter, es ist Schade, Daß du so falsch doch bist, dein Sinn ist nicht gerade. Das Grade machst du krumm; geh weg, du bist ein Wicht. Da hört der Knabe, wie der See mit Rauschen spricht: Daß ohne Falsch ich bin und lauter bis zum Grund, Thut dir dein eignes Bild und das der Sonne kund. Denk, eh du schlimmes denkst, dein Aug' ist nur nicht fein Genug, das Grade recht zu sehn im schiefen Schein. 52. Der Knabe ſitzt am See, und taucht die Ruthe drein; Die außen grade war, ſcheint innen krumm zu ſeyn. Er zieht die Ruth' hervor, da iſt ſie wieder grade, Taucht neu ſie drein, und krumm iſt ſie im Wellenbade. So oft er ein ſie taucht, iſt ſie auch wieder krumm, Und grade, wenn er ſie hervorholt wiederum. Der Knabe ſpricht: du ſcheinſt ſo lauter, es iſt Schade, Daß du ſo falſch doch biſt, dein Sinn iſt nicht gerade. Das Grade machſt du krumm; geh weg, du biſt ein Wicht. Da hoͤrt der Knabe, wie der See mit Rauſchen ſpricht: Daß ohne Falſch ich bin und lauter bis zum Grund, Thut dir dein eignes Bild und das der Sonne kund. Denk, eh du ſchlimmes denkſt, dein Aug' iſt nur nicht fein Genug, das Grade recht zu ſehn im ſchiefen Schein. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0063" n="53"/> <div n="2"> <head>52.</head><lb/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Der Knabe ſitzt am See, und taucht die Ruthe drein;</l><lb/> <l>Die außen grade war, ſcheint innen krumm zu ſeyn.</l> </lg><lb/> <lg n="2"> <l>Er zieht die Ruth' hervor, da iſt ſie wieder grade,</l><lb/> <l>Taucht neu ſie drein, und krumm iſt ſie im Wellenbade.</l> </lg><lb/> <lg n="3"> <l>So oft er ein ſie taucht, iſt ſie auch wieder krumm,</l><lb/> <l>Und grade, wenn er ſie hervorholt wiederum.</l> </lg><lb/> <lg n="4"> <l>Der Knabe ſpricht: du ſcheinſt ſo lauter, es iſt Schade,</l><lb/> <l>Daß du ſo falſch doch biſt, dein Sinn iſt nicht gerade.</l> </lg><lb/> <lg n="5"> <l>Das Grade machſt du krumm; geh weg, du biſt ein Wicht.</l><lb/> <l>Da hoͤrt der Knabe, wie der See mit Rauſchen ſpricht:</l> </lg><lb/> <lg n="6"> <l>Daß ohne Falſch ich bin und lauter bis zum Grund,</l><lb/> <l>Thut dir dein eignes Bild und das der Sonne kund.</l> </lg><lb/> <lg n="7"> <l>Denk, eh du ſchlimmes denkſt, dein Aug' iſt nur nicht fein</l><lb/> <l>Genug, das Grade recht zu ſehn im ſchiefen Schein.</l> </lg><lb/> </lg> </div> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </body> </text> </TEI> [53/0063]
52.
Der Knabe ſitzt am See, und taucht die Ruthe drein;
Die außen grade war, ſcheint innen krumm zu ſeyn.
Er zieht die Ruth' hervor, da iſt ſie wieder grade,
Taucht neu ſie drein, und krumm iſt ſie im Wellenbade.
So oft er ein ſie taucht, iſt ſie auch wieder krumm,
Und grade, wenn er ſie hervorholt wiederum.
Der Knabe ſpricht: du ſcheinſt ſo lauter, es iſt Schade,
Daß du ſo falſch doch biſt, dein Sinn iſt nicht gerade.
Das Grade machſt du krumm; geh weg, du biſt ein Wicht.
Da hoͤrt der Knabe, wie der See mit Rauſchen ſpricht:
Daß ohne Falſch ich bin und lauter bis zum Grund,
Thut dir dein eignes Bild und das der Sonne kund.
Denk, eh du ſchlimmes denkſt, dein Aug' iſt nur nicht fein
Genug, das Grade recht zu ſehn im ſchiefen Schein.
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