könnte -- und wenn dies nun gar ein Mädchen wäre! -- So gewiß es ist, daß unser überfeines Zeitalter so scharfer stolzer überlegener Weiber nicht wenige hervorgebracht hat, so gewiß ist es auch, daß die Natur sie so nicht haben wollte, daß sie es ihr zum Trotz wurden. Was ich von allge- meinen praktischen Erziehungsregeln halte, weißt Du, liebste Emma. Noch sind keine aufgestellt worden, welche auf jedes Kind anwendbar wären, die nicht nach der besondern Natur des Kindes mo- difizirt werden müßten. Und -- das Allge- meine aufs Jndividuum anwendbar zu machen, ist die Aufgabe des Erziehers.
Eben so wenig läßt sich auch irgend ein Jndivi- duum als Erziehungsprodukt, als Modell aufstel- len; denn wer wagt es, zu bestimmen, was an einem vollendeten, in so fern es ein solches ge- ben kann, der eigentlichen Erziehung gehöre? Und was der Natur? und wie viel der zufälligen Umgebung? --
Demnach gibt es ein Etwas, das aller Erzie-
könnte — und wenn dies nun gar ein Mädchen wäre! — So gewiß es iſt, daß unſer überfeines Zeitalter ſo ſcharfer ſtolzer überlegener Weiber nicht wenige hervorgebracht hat, ſo gewiß iſt es auch, daß die Natur ſie ſo nicht haben wollte, daß ſie es ihr zum Trotz wurden. Was ich von allge- meinen praktiſchen Erziehungsregeln halte, weißt Du, liebſte Emma. Noch ſind keine aufgeſtellt worden, welche auf jedes Kind anwendbar wären, die nicht nach der beſondern Natur des Kindes mo- difizirt werden müßten. Und — das Allge- meine aufs Jndividuum anwendbar zu machen, iſt die Aufgabe des Erziehers.
Eben ſo wenig läßt ſich auch irgend ein Jndivi- duum als Erziehungsprodukt, als Modell aufſtel- len; denn wer wagt es, zu beſtimmen, was an einem vollendeten, in ſo fern es ein ſolches ge- ben kann, der eigentlichen Erziehung gehöre? Und was der Natur? und wie viel der zufälligen Umgebung? —
Demnach gibt es ein Etwas, das aller Erzie-
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könnte — und wenn dies nun gar ein Mädchen
wäre! — So gewiß es iſt, daß unſer überfeines
Zeitalter ſo ſcharfer ſtolzer überlegener Weiber
nicht wenige hervorgebracht hat, ſo gewiß iſt es
auch, daß die Natur ſie ſo nicht haben wollte, daß
ſie es ihr zum Trotz wurden. Was ich von allge-
meinen praktiſchen Erziehungsregeln halte, weißt
Du, liebſte Emma. Noch ſind keine aufgeſtellt
worden, welche auf jedes Kind anwendbar wären,
die nicht nach der beſondern Natur des Kindes mo-
difizirt werden müßten. Und — das Allge-
meine aufs Jndividuum anwendbar zu
machen, iſt die Aufgabe des Erziehers.
Eben ſo wenig läßt ſich auch irgend ein Jndivi-
duum als Erziehungsprodukt, als Modell aufſtel-
len; denn wer wagt es, zu beſtimmen, was an
einem vollendeten, in ſo fern es ein ſolches ge-
ben kann, der eigentlichen Erziehung gehöre?
Und was der Natur? und wie viel der zufälligen
Umgebung? —
Demnach gibt es ein Etwas, das aller Erzie-
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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/63>, abgerufen am 23.11.2024.
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