Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite



Glaubst Du Emma, daß diese entschiedene Schwä-
che an der fast allzustarken Seele mir lieb und sehr
lieb ist? -- Dennoch werde ich sie nicht hegen und
noch weniger nähren, sondern sie ihr, wenn gleich
langsam bemeistern helfen, aber auf diesem Grunde
auch manches anbauen, was in dem ganz furcht-
losen unabhängigen Gemüth nicht so leicht gedei-
hen möchte. Jetzt weiß ich den Eingang zu dem
stolzen Herzen. Als Gefühl der eignen Schwäche,
der Abhängigkeit von den großen Naturgewalten,
kann diese bange Verzagtheit das Mittel zu schö-
nern heiligern Regungen in der Seele werden.
Auch dünkt mir, Milly wäre seit jener Fahrt ein
wenig milder und biegsamer als zuvor.

Als sie vor einiger Zeit einmal gefragt ward,
ob sie auch etwas lernen wollte, war ihre Ant-
wort: ich will nicht etwas, alles will ich ler-
nen. Und wenn das nun möglich wäre, warum
wolltest Du denn alles? fragte ich, das Wort
nehmend. Dann könnte ich mir alles selbst ma-
chen, und brauchte keinen Menschen zu bitten.
Kann man denn alles von sich selbst lernen? fragte



Glaubſt Du Emma, daß dieſe entſchiedene Schwä-
che an der faſt allzuſtarken Seele mir lieb und ſehr
lieb iſt? — Dennoch werde ich ſie nicht hegen und
noch weniger nähren, ſondern ſie ihr, wenn gleich
langſam bemeiſtern helfen, aber auf dieſem Grunde
auch manches anbauen, was in dem ganz furcht-
loſen unabhängigen Gemüth nicht ſo leicht gedei-
hen möchte. Jetzt weiß ich den Eingang zu dem
ſtolzen Herzen. Als Gefühl der eignen Schwäche,
der Abhängigkeit von den großen Naturgewalten,
kann dieſe bange Verzagtheit das Mittel zu ſchö-
nern heiligern Regungen in der Seele werden.
Auch dünkt mir, Milly wäre ſeit jener Fahrt ein
wenig milder und biegſamer als zuvor.

Als ſie vor einiger Zeit einmal gefragt ward,
ob ſie auch etwas lernen wollte, war ihre Ant-
wort: ich will nicht etwas, alles will ich ler-
nen. Und wenn das nun möglich wäre, warum
wollteſt Du denn alles? fragte ich, das Wort
nehmend. Dann könnte ich mir alles ſelbſt ma-
chen, und brauchte keinen Menſchen zu bitten.
Kann man denn alles von ſich ſelbſt lernen? fragte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0382" n="374"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Glaub&#x017F;t Du Emma, daß die&#x017F;e ent&#x017F;chiedene Schwä-<lb/>
che an der fa&#x017F;t allzu&#x017F;tarken Seele mir lieb und &#x017F;ehr<lb/>
lieb i&#x017F;t? &#x2014; Dennoch werde ich &#x017F;ie nicht hegen und<lb/>
noch weniger nähren, &#x017F;ondern &#x017F;ie ihr, wenn gleich<lb/>
lang&#x017F;am bemei&#x017F;tern helfen, aber auf die&#x017F;em Grunde<lb/>
auch manches anbauen, was in dem ganz furcht-<lb/>
lo&#x017F;en unabhängigen Gemüth nicht &#x017F;o leicht gedei-<lb/>
hen möchte. Jetzt weiß ich den Eingang zu dem<lb/>
&#x017F;tolzen Herzen. Als Gefühl der eignen Schwäche,<lb/>
der Abhängigkeit von den großen Naturgewalten,<lb/>
kann die&#x017F;e bange Verzagtheit das Mittel zu &#x017F;chö-<lb/>
nern heiligern Regungen in der Seele werden.<lb/>
Auch dünkt mir, Milly wäre &#x017F;eit jener Fahrt ein<lb/>
wenig milder und bieg&#x017F;amer als zuvor.</p><lb/>
          <p>Als &#x017F;ie vor einiger Zeit einmal gefragt ward,<lb/>
ob &#x017F;ie auch etwas lernen wollte, war ihre Ant-<lb/>
wort: ich will nicht <hi rendition="#g">etwas, alles</hi> will ich ler-<lb/>
nen. Und wenn das nun möglich wäre, warum<lb/>
wollte&#x017F;t Du denn <hi rendition="#g">alles?</hi> fragte ich, das Wort<lb/>
nehmend. Dann könnte ich mir alles &#x017F;elb&#x017F;t ma-<lb/>
chen, und brauchte keinen Men&#x017F;chen zu <hi rendition="#g">bitten</hi>.<lb/>
Kann man denn alles von &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t lernen? fragte<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[374/0382] Glaubſt Du Emma, daß dieſe entſchiedene Schwä- che an der faſt allzuſtarken Seele mir lieb und ſehr lieb iſt? — Dennoch werde ich ſie nicht hegen und noch weniger nähren, ſondern ſie ihr, wenn gleich langſam bemeiſtern helfen, aber auf dieſem Grunde auch manches anbauen, was in dem ganz furcht- loſen unabhängigen Gemüth nicht ſo leicht gedei- hen möchte. Jetzt weiß ich den Eingang zu dem ſtolzen Herzen. Als Gefühl der eignen Schwäche, der Abhängigkeit von den großen Naturgewalten, kann dieſe bange Verzagtheit das Mittel zu ſchö- nern heiligern Regungen in der Seele werden. Auch dünkt mir, Milly wäre ſeit jener Fahrt ein wenig milder und biegſamer als zuvor. Als ſie vor einiger Zeit einmal gefragt ward, ob ſie auch etwas lernen wollte, war ihre Ant- wort: ich will nicht etwas, alles will ich ler- nen. Und wenn das nun möglich wäre, warum wollteſt Du denn alles? fragte ich, das Wort nehmend. Dann könnte ich mir alles ſelbſt ma- chen, und brauchte keinen Menſchen zu bitten. Kann man denn alles von ſich ſelbſt lernen? fragte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/382
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 374. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/382>, abgerufen am 22.11.2024.