Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.ständiger Aufsicht bedürfen, daß die gebietende Engländerin den deutschen Trotzkopf nicht bitter mache, und besonders daß Seraphinens erste Liebe zur Gespielin, rauh zurückgestoßen, nicht die Kraft erzeuge, sich ohne Liebe zu behelfen. Eine traurige Kraft im Weibe, wenn sie je Grundkraft ihres ganzen Wesens werden könnte. Beide Kinder erkennen meine Autorität, aber auch nur meine unbedingt an. Von jeder andern appelliren sie wenigstens. Unsägliche Mühe wand- te Milly neulich an, die Magnetnadel in meinem kleinen Kompasse nach ihrem Sinne zu richten, die natürlich immer wieder nach Norden strebte, wenn sie sie nach Süden gerichtet. "Die ge- horcht keinem Menschen, sagte Mathilde, ein we- nig unvorsichtig zu ihr." Jch bin auch eine Mag- netnadel, war ihre schnelle Antwort. Gehorcht die Nadel auch der Tante nicht? hört ich aus meinem Kabinette sie fragen. Nein, sagte ich, sie zu mir rufend, die muß immer nach Norden zeigen, die hat gar keinen Willen. "Warum muß sie?" Das weiß ich nicht, Milly. Aber das weiß ich, daß verständige Kinder gern gehor- ſtändiger Aufſicht bedürfen, daß die gebietende Engländerin den deutſchen Trotzkopf nicht bitter mache, und beſonders daß Seraphinens erſte Liebe zur Geſpielin, rauh zurückgeſtoßen, nicht die Kraft erzeuge, ſich ohne Liebe zu behelfen. Eine traurige Kraft im Weibe, wenn ſie je Grundkraft ihres ganzen Weſens werden könnte. Beide Kinder erkennen meine Autorität, aber auch nur meine unbedingt an. Von jeder andern appelliren ſie wenigſtens. Unſägliche Mühe wand- te Milly neulich an, die Magnetnadel in meinem kleinen Kompaſſe nach ihrem Sinne zu richten, die natürlich immer wieder nach Norden ſtrebte, wenn ſie ſie nach Süden gerichtet. „Die ge- horcht keinem Menſchen, ſagte Mathilde, ein we- nig unvorſichtig zu ihr.‟ Jch bin auch eine Mag- netnadel, war ihre ſchnelle Antwort. Gehorcht die Nadel auch der Tante nicht? hört ich aus meinem Kabinette ſie fragen. Nein, ſagte ich, ſie zu mir rufend, die muß immer nach Norden zeigen, die hat gar keinen Willen. „Warum muß ſie?‟ Das weiß ich nicht, Milly. Aber das weiß ich, daß verſtändige Kinder gern gehor- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0374" n="366"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> ſtändiger Aufſicht bedürfen, daß die gebietende<lb/> Engländerin den deutſchen Trotzkopf nicht bitter<lb/> mache, und beſonders daß Seraphinens erſte<lb/> Liebe zur Geſpielin, rauh zurückgeſtoßen, nicht<lb/> die Kraft erzeuge, ſich ohne Liebe zu behelfen.<lb/> Eine traurige Kraft im Weibe, wenn ſie je<lb/> Grundkraft ihres ganzen Weſens werden könnte.<lb/> Beide Kinder erkennen meine Autorität, aber auch<lb/> nur <hi rendition="#g">meine</hi> unbedingt an. Von jeder andern<lb/> appelliren ſie wenigſtens. Unſägliche Mühe wand-<lb/> te Milly neulich an, die Magnetnadel in meinem<lb/> kleinen Kompaſſe nach ihrem Sinne zu richten,<lb/> die natürlich immer wieder nach Norden ſtrebte,<lb/> wenn ſie ſie nach Süden gerichtet. „<hi rendition="#g">Die</hi> ge-<lb/> horcht keinem Menſchen, ſagte Mathilde, ein we-<lb/> nig unvorſichtig zu ihr.‟ Jch bin auch eine Mag-<lb/> netnadel, war ihre ſchnelle Antwort. Gehorcht<lb/> die Nadel auch der Tante nicht? hört ich aus<lb/> meinem Kabinette ſie fragen. Nein, ſagte ich,<lb/> ſie zu mir rufend, die <hi rendition="#g">muß</hi> immer nach Norden<lb/> zeigen, die hat gar keinen Willen. „Warum<lb/><hi rendition="#g">muß</hi> ſie?‟ Das weiß ich nicht, Milly. Aber<lb/> das weiß ich, daß verſtändige Kinder gern gehor-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [366/0374]
ſtändiger Aufſicht bedürfen, daß die gebietende
Engländerin den deutſchen Trotzkopf nicht bitter
mache, und beſonders daß Seraphinens erſte
Liebe zur Geſpielin, rauh zurückgeſtoßen, nicht
die Kraft erzeuge, ſich ohne Liebe zu behelfen.
Eine traurige Kraft im Weibe, wenn ſie je
Grundkraft ihres ganzen Weſens werden könnte.
Beide Kinder erkennen meine Autorität, aber auch
nur meine unbedingt an. Von jeder andern
appelliren ſie wenigſtens. Unſägliche Mühe wand-
te Milly neulich an, die Magnetnadel in meinem
kleinen Kompaſſe nach ihrem Sinne zu richten,
die natürlich immer wieder nach Norden ſtrebte,
wenn ſie ſie nach Süden gerichtet. „Die ge-
horcht keinem Menſchen, ſagte Mathilde, ein we-
nig unvorſichtig zu ihr.‟ Jch bin auch eine Mag-
netnadel, war ihre ſchnelle Antwort. Gehorcht
die Nadel auch der Tante nicht? hört ich aus
meinem Kabinette ſie fragen. Nein, ſagte ich,
ſie zu mir rufend, die muß immer nach Norden
zeigen, die hat gar keinen Willen. „Warum
muß ſie?‟ Das weiß ich nicht, Milly. Aber
das weiß ich, daß verſtändige Kinder gern gehor-
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