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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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müsse, fällt jener Grund weg; dann heiße es: du
bist ein verständiges Kind, und weißt, daß man
von der Arzenei die bitter schmeckt, gesund und
lustig wird, also nimm, und nimm gleich. Nur
unterhandle man so wenig als möglich vorher mit
ihm. Der Zweck den man dadurch beabsichtigt,
nemlich das Vertrautmachen mit der unangeneh-
men Sache, gehet nicht nur verloren, sondern die
Phantasie vergrößert das gefürchtete Übel auch oft
noch so sehr, daß alle unsere räsonnirende Weisheit
daran zu Schanden wird, und wir nun gerade
das unterlassen müssen, wozu wir das Kind so
mühsam vorbereiteten, wenn wir nicht großes Un-
heil stiften wollen. Denn hat die Phantasie eines
Kindes einmal ein Mückchen zum Elephanten ge-
macht, so kann es von dem Riesen seiner Einbil-
dung eben sowohl zertreten werden, wie von einem
wirklichen. Man lasse also alles Unvermeidliche,
Unangenehme schnell wie das Schicksal über das
Kind hereinbrechen, und wo man es nicht schlafend
hinüberbringen kann, da führe man es rasch hin-
durch, ehe seine Phantasie durch langes Anschauen
die Sache immer dunkler und dunkler gefärbt.



müſſe, fällt jener Grund weg; dann heiße es: du
biſt ein verſtändiges Kind, und weißt, daß man
von der Arzenei die bitter ſchmeckt, geſund und
luſtig wird, alſo nimm, und nimm gleich. Nur
unterhandle man ſo wenig als möglich vorher mit
ihm. Der Zweck den man dadurch beabſichtigt,
nemlich das Vertrautmachen mit der unangeneh-
men Sache, gehet nicht nur verloren, ſondern die
Phantaſie vergrößert das gefürchtete Übel auch oft
noch ſo ſehr, daß alle unſere räſonnirende Weisheit
daran zu Schanden wird, und wir nun gerade
das unterlaſſen müſſen, wozu wir das Kind ſo
mühſam vorbereiteten, wenn wir nicht großes Un-
heil ſtiften wollen. Denn hat die Phantaſie eines
Kindes einmal ein Mückchen zum Elephanten ge-
macht, ſo kann es von dem Rieſen ſeiner Einbil-
dung eben ſowohl zertreten werden, wie von einem
wirklichen. Man laſſe alſo alles Unvermeidliche,
Unangenehme ſchnell wie das Schickſal über das
Kind hereinbrechen, und wo man es nicht ſchlafend
hinüberbringen kann, da führe man es raſch hin-
durch, ehe ſeine Phantaſie durch langes Anſchauen
die Sache immer dunkler und dunkler gefärbt.

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[302/0310] müſſe, fällt jener Grund weg; dann heiße es: du biſt ein verſtändiges Kind, und weißt, daß man von der Arzenei die bitter ſchmeckt, geſund und luſtig wird, alſo nimm, und nimm gleich. Nur unterhandle man ſo wenig als möglich vorher mit ihm. Der Zweck den man dadurch beabſichtigt, nemlich das Vertrautmachen mit der unangeneh- men Sache, gehet nicht nur verloren, ſondern die Phantaſie vergrößert das gefürchtete Übel auch oft noch ſo ſehr, daß alle unſere räſonnirende Weisheit daran zu Schanden wird, und wir nun gerade das unterlaſſen müſſen, wozu wir das Kind ſo mühſam vorbereiteten, wenn wir nicht großes Un- heil ſtiften wollen. Denn hat die Phantaſie eines Kindes einmal ein Mückchen zum Elephanten ge- macht, ſo kann es von dem Rieſen ſeiner Einbil- dung eben ſowohl zertreten werden, wie von einem wirklichen. Man laſſe alſo alles Unvermeidliche, Unangenehme ſchnell wie das Schickſal über das Kind hereinbrechen, und wo man es nicht ſchlafend hinüberbringen kann, da führe man es raſch hin- durch, ehe ſeine Phantaſie durch langes Anſchauen die Sache immer dunkler und dunkler gefärbt.

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/310>, abgerufen am 02.07.2024.