Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite



erwähnt." Mit dieser Anrede sich zu mir wen-
dend, machte er gestern Abend seinem Herzen Luft.

Jch. Von den Planen Deiner Eltern für die
Zukunft weiß ich nicht viel, lieber Woldemar,
aber ihre Gesinnung über den bewußten Punkt
glaube ich vollkommen zu kennen. Willst Du Dich
mir näher aufschließen? Er blickte umher, ob wir
auch ganz allein seyn, und dann fing er wieder an:

W. Du wirst Dich, gute Tante, meiner frü-
hern Neigung für ein sehr reines himmlisches We-
sen erinnern. Wenigstens kann sie Dir nicht ganz
entgangen seyn, denn Du hast eines meiner Blät-
ter gesehen. Als ich die Herrliche zuerst sahe, war
ich noch kaum ein Jüngling zu nennen, und schäm-
te mich der Gefühle die sie in mir erregte, auf eine
Art die ich Dir nicht beschreiben kann. Als ich sie
nach ein Paar Jahren wiedersah, zuckte mein gan-
zes Wesen krampfhaft bei ihrem Anblick: ich konn-
te mich oft nicht halten, es war mir, als müßte
ich ihr zu Füßen fallen; aber dieselbe Scheu hielt
mich zurück, mich ihr auch nur durch eine Miene
zu offenbaren. Darauf starb ihre Mutter, und sie



erwähnt.‟ Mit dieſer Anrede ſich zu mir wen-
dend, machte er geſtern Abend ſeinem Herzen Luft.

Jch. Von den Planen Deiner Eltern für die
Zukunft weiß ich nicht viel, lieber Woldemar,
aber ihre Geſinnung über den bewußten Punkt
glaube ich vollkommen zu kennen. Willſt Du Dich
mir näher aufſchließen? Er blickte umher, ob wir
auch ganz allein ſeyn, und dann fing er wieder an:

W. Du wirſt Dich, gute Tante, meiner frü-
hern Neigung für ein ſehr reines himmliſches We-
ſen erinnern. Wenigſtens kann ſie Dir nicht ganz
entgangen ſeyn, denn Du haſt eines meiner Blät-
ter geſehen. Als ich die Herrliche zuerſt ſahe, war
ich noch kaum ein Jüngling zu nennen, und ſchäm-
te mich der Gefühle die ſie in mir erregte, auf eine
Art die ich Dir nicht beſchreiben kann. Als ich ſie
nach ein Paar Jahren wiederſah, zuckte mein gan-
zes Weſen krampfhaft bei ihrem Anblick: ich konn-
te mich oft nicht halten, es war mir, als müßte
ich ihr zu Füßen fallen; aber dieſelbe Scheu hielt
mich zurück, mich ihr auch nur durch eine Miene
zu offenbaren. Darauf ſtarb ihre Mutter, und ſie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0300" n="292"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
erwähnt.&#x201F; Mit die&#x017F;er Anrede &#x017F;ich zu mir wen-<lb/>
dend, machte er ge&#x017F;tern Abend &#x017F;einem Herzen Luft.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Jch</hi>. Von den Planen Deiner Eltern für die<lb/>
Zukunft weiß ich nicht viel, lieber Woldemar,<lb/>
aber ihre Ge&#x017F;innung über den bewußten Punkt<lb/>
glaube ich vollkommen zu kennen. Will&#x017F;t Du Dich<lb/>
mir näher auf&#x017F;chließen? Er blickte umher, ob wir<lb/>
auch ganz allein &#x017F;eyn, und dann fing er wieder an:</p><lb/>
          <p>W. Du wir&#x017F;t Dich, gute Tante, meiner frü-<lb/>
hern Neigung für ein &#x017F;ehr reines himmli&#x017F;ches We-<lb/>
&#x017F;en erinnern. Wenig&#x017F;tens kann &#x017F;ie Dir nicht ganz<lb/>
entgangen &#x017F;eyn, denn Du ha&#x017F;t eines meiner Blät-<lb/>
ter ge&#x017F;ehen. Als ich die Herrliche zuer&#x017F;t &#x017F;ahe, war<lb/>
ich noch kaum ein Jüngling zu nennen, und &#x017F;chäm-<lb/>
te mich der Gefühle die &#x017F;ie in mir erregte, auf eine<lb/>
Art die ich Dir nicht be&#x017F;chreiben kann. Als ich &#x017F;ie<lb/>
nach ein Paar Jahren wieder&#x017F;ah, zuckte mein gan-<lb/>
zes We&#x017F;en krampfhaft bei ihrem Anblick: ich konn-<lb/>
te mich oft nicht halten, es war mir, als müßte<lb/>
ich ihr zu Füßen fallen; aber die&#x017F;elbe Scheu hielt<lb/>
mich zurück, mich ihr auch nur durch eine Miene<lb/>
zu offenbaren. Darauf &#x017F;tarb ihre Mutter, und &#x017F;ie<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[292/0300] erwähnt.‟ Mit dieſer Anrede ſich zu mir wen- dend, machte er geſtern Abend ſeinem Herzen Luft. Jch. Von den Planen Deiner Eltern für die Zukunft weiß ich nicht viel, lieber Woldemar, aber ihre Geſinnung über den bewußten Punkt glaube ich vollkommen zu kennen. Willſt Du Dich mir näher aufſchließen? Er blickte umher, ob wir auch ganz allein ſeyn, und dann fing er wieder an: W. Du wirſt Dich, gute Tante, meiner frü- hern Neigung für ein ſehr reines himmliſches We- ſen erinnern. Wenigſtens kann ſie Dir nicht ganz entgangen ſeyn, denn Du haſt eines meiner Blät- ter geſehen. Als ich die Herrliche zuerſt ſahe, war ich noch kaum ein Jüngling zu nennen, und ſchäm- te mich der Gefühle die ſie in mir erregte, auf eine Art die ich Dir nicht beſchreiben kann. Als ich ſie nach ein Paar Jahren wiederſah, zuckte mein gan- zes Weſen krampfhaft bei ihrem Anblick: ich konn- te mich oft nicht halten, es war mir, als müßte ich ihr zu Füßen fallen; aber dieſelbe Scheu hielt mich zurück, mich ihr auch nur durch eine Miene zu offenbaren. Darauf ſtarb ihre Mutter, und ſie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/300
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/300>, abgerufen am 03.05.2024.