Spatziergängen bei einander. An unsern Vorle- sungen dürfen sie fürs erste noch nicht Theil neh- men. Sie haben noch nichts deutsches gelesen, und könnten mit unsern Kindern nicht Schritt hal- ten; denn diese lesen kein Buch, und hören keins vorlesen, wovon sie mir nicht genaue Rechenschaft geben könnten. Sie lesen sehr wenig. Haben sie den Geist eines Buches gefaßt, so zeigt sich das bald. Zum bloßen leeren Zeitvertreibe lesen sie nichts, gar nichts. Zur Erholung von unsern klei- nen Anstrengungen ladet uns die herrliche Natur fast täglich ein. Und an Tagen, wo sie sich un- freundlich verhüllt, oder uns die rauhe Seite zu- kehrt, stehen uns die Künste liebend zur Seite. Was brauchen wir denn Makulatur in Form eines moralischen Zeitvertreibes? o der unseligen Sünd- fluth von fadem Geschreibsel -- die einer der größ- ten Wohl- und Uebelthäter des Menschenge- schlechts durch die Erfindung der Presse über uns gebracht hat! Doch Du, geliebte Emma, bist dem Gebirge Ararat nahe, das die Fluth nicht errei- chen konnte. Dir sendet die verderbte Schrift- steller-Welt in Deiner Arche nichts zu. Was
Spatziergängen bei einander. An unſern Vorle- ſungen dürfen ſie fürs erſte noch nicht Theil neh- men. Sie haben noch nichts deutſches geleſen, und könnten mit unſern Kindern nicht Schritt hal- ten; denn dieſe leſen kein Buch, und hören keins vorleſen, wovon ſie mir nicht genaue Rechenſchaft geben könnten. Sie leſen ſehr wenig. Haben ſie den Geiſt eines Buches gefaßt, ſo zeigt ſich das bald. Zum bloßen leeren Zeitvertreibe leſen ſie nichts, gar nichts. Zur Erholung von unſern klei- nen Anſtrengungen ladet uns die herrliche Natur faſt täglich ein. Und an Tagen, wo ſie ſich un- freundlich verhüllt, oder uns die rauhe Seite zu- kehrt, ſtehen uns die Künſte liebend zur Seite. Was brauchen wir denn Makulatur in Form eines moraliſchen Zeitvertreibes? o der unſeligen Sünd- fluth von fadem Geſchreibſel — die einer der größ- ten Wohl- und Uebelthäter des Menſchenge- ſchlechts durch die Erfindung der Preſſe über uns gebracht hat! Doch Du, geliebte Emma, biſt dem Gebirge Ararat nahe, das die Fluth nicht errei- chen konnte. Dir ſendet die verderbte Schrift- ſteller-Welt in Deiner Arche nichts zu. Was
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0178"n="170"/>
Spatziergängen bei einander. An unſern Vorle-<lb/>ſungen dürfen ſie fürs erſte noch nicht Theil neh-<lb/>
men. Sie haben noch nichts deutſches geleſen,<lb/>
und könnten mit unſern Kindern nicht Schritt hal-<lb/>
ten; denn dieſe leſen kein Buch, und hören keins<lb/>
vorleſen, wovon ſie mir nicht genaue Rechenſchaft<lb/>
geben könnten. Sie leſen ſehr wenig. Haben<lb/>ſie den Geiſt eines Buches gefaßt, ſo zeigt ſich<lb/>
das bald. Zum bloßen leeren Zeitvertreibe leſen ſie<lb/>
nichts, gar nichts. Zur Erholung von unſern klei-<lb/>
nen Anſtrengungen ladet uns die herrliche Natur<lb/>
faſt täglich ein. Und an Tagen, wo ſie ſich un-<lb/>
freundlich verhüllt, oder uns die rauhe Seite zu-<lb/>
kehrt, ſtehen uns die Künſte liebend zur Seite.<lb/>
Was brauchen wir denn Makulatur in Form eines<lb/>
moraliſchen Zeitvertreibes? o der unſeligen Sünd-<lb/>
fluth von fadem Geſchreibſel — die einer der größ-<lb/>
ten Wohl- und Uebelthäter des Menſchenge-<lb/>ſchlechts durch die Erfindung der Preſſe über uns<lb/>
gebracht hat! Doch Du, geliebte Emma, biſt dem<lb/>
Gebirge Ararat nahe, das die Fluth nicht errei-<lb/>
chen konnte. Dir ſendet die verderbte Schrift-<lb/>ſteller-Welt in Deiner Arche nichts zu. Was<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[170/0178]
Spatziergängen bei einander. An unſern Vorle-
ſungen dürfen ſie fürs erſte noch nicht Theil neh-
men. Sie haben noch nichts deutſches geleſen,
und könnten mit unſern Kindern nicht Schritt hal-
ten; denn dieſe leſen kein Buch, und hören keins
vorleſen, wovon ſie mir nicht genaue Rechenſchaft
geben könnten. Sie leſen ſehr wenig. Haben
ſie den Geiſt eines Buches gefaßt, ſo zeigt ſich
das bald. Zum bloßen leeren Zeitvertreibe leſen ſie
nichts, gar nichts. Zur Erholung von unſern klei-
nen Anſtrengungen ladet uns die herrliche Natur
faſt täglich ein. Und an Tagen, wo ſie ſich un-
freundlich verhüllt, oder uns die rauhe Seite zu-
kehrt, ſtehen uns die Künſte liebend zur Seite.
Was brauchen wir denn Makulatur in Form eines
moraliſchen Zeitvertreibes? o der unſeligen Sünd-
fluth von fadem Geſchreibſel — die einer der größ-
ten Wohl- und Uebelthäter des Menſchenge-
ſchlechts durch die Erfindung der Preſſe über uns
gebracht hat! Doch Du, geliebte Emma, biſt dem
Gebirge Ararat nahe, das die Fluth nicht errei-
chen konnte. Dir ſendet die verderbte Schrift-
ſteller-Welt in Deiner Arche nichts zu. Was
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/178>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.