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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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Spatziergängen bei einander. An unsern Vorle-
sungen dürfen sie fürs erste noch nicht Theil neh-
men. Sie haben noch nichts deutsches gelesen,
und könnten mit unsern Kindern nicht Schritt hal-
ten; denn diese lesen kein Buch, und hören keins
vorlesen, wovon sie mir nicht genaue Rechenschaft
geben könnten. Sie lesen sehr wenig. Haben
sie den Geist eines Buches gefaßt, so zeigt sich
das bald. Zum bloßen leeren Zeitvertreibe lesen sie
nichts, gar nichts. Zur Erholung von unsern klei-
nen Anstrengungen ladet uns die herrliche Natur
fast täglich ein. Und an Tagen, wo sie sich un-
freundlich verhüllt, oder uns die rauhe Seite zu-
kehrt, stehen uns die Künste liebend zur Seite.
Was brauchen wir denn Makulatur in Form eines
moralischen Zeitvertreibes? o der unseligen Sünd-
fluth von fadem Geschreibsel -- die einer der größ-
ten Wohl- und Uebelthäter des Menschenge-
schlechts durch die Erfindung der Presse über uns
gebracht hat! Doch Du, geliebte Emma, bist dem
Gebirge Ararat nahe, das die Fluth nicht errei-
chen konnte. Dir sendet die verderbte Schrift-
steller-Welt in Deiner Arche nichts zu. Was

Spatziergängen bei einander. An unſern Vorle-
ſungen dürfen ſie fürs erſte noch nicht Theil neh-
men. Sie haben noch nichts deutſches geleſen,
und könnten mit unſern Kindern nicht Schritt hal-
ten; denn dieſe leſen kein Buch, und hören keins
vorleſen, wovon ſie mir nicht genaue Rechenſchaft
geben könnten. Sie leſen ſehr wenig. Haben
ſie den Geiſt eines Buches gefaßt, ſo zeigt ſich
das bald. Zum bloßen leeren Zeitvertreibe leſen ſie
nichts, gar nichts. Zur Erholung von unſern klei-
nen Anſtrengungen ladet uns die herrliche Natur
faſt täglich ein. Und an Tagen, wo ſie ſich un-
freundlich verhüllt, oder uns die rauhe Seite zu-
kehrt, ſtehen uns die Künſte liebend zur Seite.
Was brauchen wir denn Makulatur in Form eines
moraliſchen Zeitvertreibes? o der unſeligen Sünd-
fluth von fadem Geſchreibſel — die einer der größ-
ten Wohl- und Uebelthäter des Menſchenge-
ſchlechts durch die Erfindung der Preſſe über uns
gebracht hat! Doch Du, geliebte Emma, biſt dem
Gebirge Ararat nahe, das die Fluth nicht errei-
chen konnte. Dir ſendet die verderbte Schrift-
ſteller-Welt in Deiner Arche nichts zu. Was

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[170/0178] Spatziergängen bei einander. An unſern Vorle- ſungen dürfen ſie fürs erſte noch nicht Theil neh- men. Sie haben noch nichts deutſches geleſen, und könnten mit unſern Kindern nicht Schritt hal- ten; denn dieſe leſen kein Buch, und hören keins vorleſen, wovon ſie mir nicht genaue Rechenſchaft geben könnten. Sie leſen ſehr wenig. Haben ſie den Geiſt eines Buches gefaßt, ſo zeigt ſich das bald. Zum bloßen leeren Zeitvertreibe leſen ſie nichts, gar nichts. Zur Erholung von unſern klei- nen Anſtrengungen ladet uns die herrliche Natur faſt täglich ein. Und an Tagen, wo ſie ſich un- freundlich verhüllt, oder uns die rauhe Seite zu- kehrt, ſtehen uns die Künſte liebend zur Seite. Was brauchen wir denn Makulatur in Form eines moraliſchen Zeitvertreibes? o der unſeligen Sünd- fluth von fadem Geſchreibſel — die einer der größ- ten Wohl- und Uebelthäter des Menſchenge- ſchlechts durch die Erfindung der Preſſe über uns gebracht hat! Doch Du, geliebte Emma, biſt dem Gebirge Ararat nahe, das die Fluth nicht errei- chen konnte. Dir ſendet die verderbte Schrift- ſteller-Welt in Deiner Arche nichts zu. Was

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/178>, abgerufen am 21.11.2024.