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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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Seitdem hat sich auch Mlle. Fleuri von Elvi-
ren und ihren Kindern getrennt. Zu uns herüber
ziehen konnten wir sie einmal nicht. Jhr durch-
aus verzerrtes und verstimmtes Wesen lag zu tief,
und konnte sich mit der bessern Natur nicht mehr
ausgleichen. Elvire ist sehr froh, diese Scheidung
zu Stande gebracht und überstanden zu sehen. Die
Kinder kommen mir vor wie junges Geflügel, das
man mit gebundenem Fittich und Beinen in einem
wohlverschlossenen Korbe meilenweit gefahren oder
getragen. Man ist nun an Ort und Stelle, macht
den Korb auf, lös't die Bande, und will es auf
dem Hofe laufen lassen. Aber die Flügel sind ge-
lähmt, die Beine geschwollen, denn sie waren hart
gebunden, sie haben mit der suspendirten Kraft
auch selbst den Willen zu fliegen oder zu laufen auf
eine Zeitlang eingebüßt. Doch laßt es nur, lieben
Leute, laßt es scheu sich in den Winkel ducken; --
die Kraft kehrt wieder -- sind anders Flügel und
Beine nicht zerbrochen -- der Wille mit ihr, die
Natur restaurirt sich, das gemißhandelte Wesen
richtet sich aus der Verkrüppelung auf und wird
wieder was es war. Nur wenn dem armen Schä-

Seitdem hat ſich auch Mlle. Fleuri von Elvi-
ren und ihren Kindern getrennt. Zu uns herüber
ziehen konnten wir ſie einmal nicht. Jhr durch-
aus verzerrtes und verſtimmtes Weſen lag zu tief,
und konnte ſich mit der beſſern Natur nicht mehr
ausgleichen. Elvire iſt ſehr froh, dieſe Scheidung
zu Stande gebracht und überſtanden zu ſehen. Die
Kinder kommen mir vor wie junges Geflügel, das
man mit gebundenem Fittich und Beinen in einem
wohlverſchloſſenen Korbe meilenweit gefahren oder
getragen. Man iſt nun an Ort und Stelle, macht
den Korb auf, löſ’t die Bande, und will es auf
dem Hofe laufen laſſen. Aber die Flügel ſind ge-
lähmt, die Beine geſchwollen, denn ſie waren hart
gebunden, ſie haben mit der ſuſpendirten Kraft
auch ſelbſt den Willen zu fliegen oder zu laufen auf
eine Zeitlang eingebüßt. Doch laßt es nur, lieben
Leute, laßt es ſcheu ſich in den Winkel ducken; —
die Kraft kehrt wieder — ſind anders Flügel und
Beine nicht zerbrochen — der Wille mit ihr, die
Natur reſtaurirt ſich, das gemißhandelte Weſen
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wieder was es war. Nur wenn dem armen Schä-

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[168/0176] Seitdem hat ſich auch Mlle. Fleuri von Elvi- ren und ihren Kindern getrennt. Zu uns herüber ziehen konnten wir ſie einmal nicht. Jhr durch- aus verzerrtes und verſtimmtes Weſen lag zu tief, und konnte ſich mit der beſſern Natur nicht mehr ausgleichen. Elvire iſt ſehr froh, dieſe Scheidung zu Stande gebracht und überſtanden zu ſehen. Die Kinder kommen mir vor wie junges Geflügel, das man mit gebundenem Fittich und Beinen in einem wohlverſchloſſenen Korbe meilenweit gefahren oder getragen. Man iſt nun an Ort und Stelle, macht den Korb auf, löſ’t die Bande, und will es auf dem Hofe laufen laſſen. Aber die Flügel ſind ge- lähmt, die Beine geſchwollen, denn ſie waren hart gebunden, ſie haben mit der ſuſpendirten Kraft auch ſelbſt den Willen zu fliegen oder zu laufen auf eine Zeitlang eingebüßt. Doch laßt es nur, lieben Leute, laßt es ſcheu ſich in den Winkel ducken; — die Kraft kehrt wieder — ſind anders Flügel und Beine nicht zerbrochen — der Wille mit ihr, die Natur reſtaurirt ſich, das gemißhandelte Weſen richtet ſich aus der Verkrüppelung auf und wird wieder was es war. Nur wenn dem armen Schä-

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/176>, abgerufen am 21.11.2024.