men war sie von allen gekannt und geliebt. Die Knaben der sehr gut eingerichteten Schule hatten Graun's "Auferstehen, ja auferstehen" einge- lernt, und sangen es, während der Sarg ver- senkt wurde, unter vielen, vielen Thränen des Gefolges. Unsere Kinder waren fast aufgelös't. Betty weinte nicht mehr, und sehr wohl hätte sie zum Monumente auf der Mutter Grabe dienen mögen -- smiling on grief, wie der Dichter sagt. Die gewohnte Leichenrede hielt ein benach- barter Pfarrer; des Gegenstandes nicht ganz un- werth. Sobald mein Freund Fassung genug hat, will er selbst zu seiner Gemeine über Tod und Ewigkeit reden. Das muß eine große Lehrstunde für uns alle werden. Dann wollen wir, bis es vollends Frühling wird, noch auf ein paar Wochen mit einander verreisen. Unsere Kinder sind wohl. Dies diene Dir zur Beruhigung, wenn sie so- bald nicht schreiben sollten.
Lebe wohl!
men war ſie von allen gekannt und geliebt. Die Knaben der ſehr gut eingerichteten Schule hatten Graun’s „Auferſtehen, ja auferſtehen‟ einge- lernt, und ſangen es, während der Sarg ver- ſenkt wurde, unter vielen, vielen Thränen des Gefolges. Unſere Kinder waren faſt aufgelöſ’t. Betty weinte nicht mehr, und ſehr wohl hätte ſie zum Monumente auf der Mutter Grabe dienen mögen — smiling on grief, wie der Dichter ſagt. Die gewohnte Leichenrede hielt ein benach- barter Pfarrer; des Gegenſtandes nicht ganz un- werth. Sobald mein Freund Faſſung genug hat, will er ſelbſt zu ſeiner Gemeine über Tod und Ewigkeit reden. Das muß eine große Lehrſtunde für uns alle werden. Dann wollen wir, bis es vollends Frühling wird, noch auf ein paar Wochen mit einander verreiſen. Unſere Kinder ſind wohl. Dies diene Dir zur Beruhigung, wenn ſie ſo- bald nicht ſchreiben ſollten.
Lebe wohl!
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0120"n="112"/>
men war ſie von allen gekannt und geliebt. Die<lb/>
Knaben der ſehr gut eingerichteten Schule hatten<lb/>
Graun’s „Auferſtehen, ja auferſtehen‟ einge-<lb/>
lernt, und ſangen es, während der Sarg ver-<lb/>ſenkt wurde, unter vielen, vielen Thränen des<lb/>
Gefolges. Unſere Kinder waren faſt aufgelöſ’t.<lb/>
Betty weinte nicht mehr, und ſehr wohl hätte ſie<lb/>
zum Monumente auf der Mutter Grabe dienen<lb/>
mögen —<hirendition="#aq"><hirendition="#i">smiling on grief</hi>,</hi> wie der Dichter<lb/>ſagt. Die gewohnte Leichenrede hielt ein benach-<lb/>
barter Pfarrer; des Gegenſtandes nicht ganz un-<lb/>
werth. Sobald mein Freund Faſſung genug hat,<lb/>
will er ſelbſt zu ſeiner Gemeine über Tod und<lb/>
Ewigkeit reden. Das muß eine große Lehrſtunde<lb/>
für uns alle werden. Dann wollen wir, bis es<lb/>
vollends Frühling wird, noch auf ein paar Wochen<lb/>
mit einander verreiſen. Unſere Kinder ſind wohl.<lb/>
Dies diene Dir zur Beruhigung, wenn ſie ſo-<lb/>
bald nicht ſchreiben ſollten.</p><lb/><p>Lebe wohl!</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/></div></body></text></TEI>
[112/0120]
men war ſie von allen gekannt und geliebt. Die
Knaben der ſehr gut eingerichteten Schule hatten
Graun’s „Auferſtehen, ja auferſtehen‟ einge-
lernt, und ſangen es, während der Sarg ver-
ſenkt wurde, unter vielen, vielen Thränen des
Gefolges. Unſere Kinder waren faſt aufgelöſ’t.
Betty weinte nicht mehr, und ſehr wohl hätte ſie
zum Monumente auf der Mutter Grabe dienen
mögen — smiling on grief, wie der Dichter
ſagt. Die gewohnte Leichenrede hielt ein benach-
barter Pfarrer; des Gegenſtandes nicht ganz un-
werth. Sobald mein Freund Faſſung genug hat,
will er ſelbſt zu ſeiner Gemeine über Tod und
Ewigkeit reden. Das muß eine große Lehrſtunde
für uns alle werden. Dann wollen wir, bis es
vollends Frühling wird, noch auf ein paar Wochen
mit einander verreiſen. Unſere Kinder ſind wohl.
Dies diene Dir zur Beruhigung, wenn ſie ſo-
bald nicht ſchreiben ſollten.
Lebe wohl!
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/120>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.