Gründe für Deine Anordnungen, wohlan! laß sie noch kindlich gehorchen. Es ist dies dem jun- gen Gemüthe eben so heilsam, als verderblich ihm der Geist des Widerspruchs ist.
Vor dem zu häufigen Raisonniren mit Kindern kann ich nicht laut, nicht stark genug warnen; von seiner Schädlichkeit hat mich manches Beispiel in meinem Erfahrungskreise überzeugt. Jch kenne kaum noch einen so verderblichen Mißgriff in der Erziehung, als das ewig moralisirende Raisonne- ment. Jch erinnere mich besonders eines trauri- gen Beispiels solcher Erziehungsmethode, eines Kindes, das mit nicht ganz schlechten Anlagen un- leidlich, widerlich geworden war. Es ist ein ein- ziges Kind kränkelnder Eltern, die es gränzenlos liebten, und es aus Jrrthum früh zu dieser ver- meynten Verstandesäußerung anleiteten, weil sie dadurch der Geistesenergie bei ihm aufzuhelfen glaubten. Sie hatten Dina gewöhnt, nichts zu thun, wovon man ihr nicht den Grund gesagt; nichts auf Treu und Glauben, nichts ohne Wider- spruch anzunehmen. Aber wie sehr mußten sie
Gründe für Deine Anordnungen, wohlan! laß ſie noch kindlich gehorchen. Es iſt dies dem jun- gen Gemüthe eben ſo heilſam, als verderblich ihm der Geiſt des Widerſpruchs iſt.
Vor dem zu häufigen Raiſonniren mit Kindern kann ich nicht laut, nicht ſtark genug warnen; von ſeiner Schädlichkeit hat mich manches Beiſpiel in meinem Erfahrungskreiſe überzeugt. Jch kenne kaum noch einen ſo verderblichen Mißgriff in der Erziehung, als das ewig moraliſirende Raiſonne- ment. Jch erinnere mich beſonders eines trauri- gen Beiſpiels ſolcher Erziehungsmethode, eines Kindes, das mit nicht ganz ſchlechten Anlagen un- leidlich, widerlich geworden war. Es iſt ein ein- ziges Kind kränkelnder Eltern, die es gränzenlos liebten, und es aus Jrrthum früh zu dieſer ver- meynten Verſtandesäußerung anleiteten, weil ſie dadurch der Geiſtesenergie bei ihm aufzuhelfen glaubten. Sie hatten Dina gewöhnt, nichts zu thun, wovon man ihr nicht den Grund geſagt; nichts auf Treu und Glauben, nichts ohne Wider- ſpruch anzunehmen. Aber wie ſehr mußten ſie
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0075"n="61"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
Gründe für Deine Anordnungen, wohlan! laß<lb/>ſie noch kindlich gehorchen. Es iſt dies dem jun-<lb/>
gen Gemüthe eben ſo heilſam, als verderblich ihm<lb/>
der Geiſt des Widerſpruchs iſt.</p><lb/><p>Vor dem zu häufigen Raiſonniren mit Kindern<lb/>
kann ich nicht laut, nicht ſtark genug warnen; von<lb/>ſeiner Schädlichkeit hat mich manches Beiſpiel in<lb/>
meinem Erfahrungskreiſe überzeugt. Jch kenne<lb/>
kaum noch einen ſo verderblichen Mißgriff in der<lb/>
Erziehung, als das ewig moraliſirende Raiſonne-<lb/>
ment. Jch erinnere mich beſonders eines trauri-<lb/>
gen Beiſpiels ſolcher Erziehungsmethode, eines<lb/>
Kindes, das mit nicht ganz ſchlechten Anlagen un-<lb/>
leidlich, widerlich geworden war. Es iſt ein ein-<lb/>
ziges Kind kränkelnder Eltern, die es gränzenlos<lb/>
liebten, und es aus Jrrthum früh zu dieſer ver-<lb/>
meynten Verſtandesäußerung anleiteten, weil ſie<lb/>
dadurch der Geiſtesenergie bei ihm aufzuhelfen<lb/>
glaubten. Sie hatten Dina gewöhnt, nichts zu<lb/>
thun, wovon man ihr nicht den Grund geſagt;<lb/>
nichts auf Treu und Glauben, nichts ohne Wider-<lb/>ſpruch anzunehmen. Aber wie ſehr mußten ſie<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[61/0075]
Gründe für Deine Anordnungen, wohlan! laß
ſie noch kindlich gehorchen. Es iſt dies dem jun-
gen Gemüthe eben ſo heilſam, als verderblich ihm
der Geiſt des Widerſpruchs iſt.
Vor dem zu häufigen Raiſonniren mit Kindern
kann ich nicht laut, nicht ſtark genug warnen; von
ſeiner Schädlichkeit hat mich manches Beiſpiel in
meinem Erfahrungskreiſe überzeugt. Jch kenne
kaum noch einen ſo verderblichen Mißgriff in der
Erziehung, als das ewig moraliſirende Raiſonne-
ment. Jch erinnere mich beſonders eines trauri-
gen Beiſpiels ſolcher Erziehungsmethode, eines
Kindes, das mit nicht ganz ſchlechten Anlagen un-
leidlich, widerlich geworden war. Es iſt ein ein-
ziges Kind kränkelnder Eltern, die es gränzenlos
liebten, und es aus Jrrthum früh zu dieſer ver-
meynten Verſtandesäußerung anleiteten, weil ſie
dadurch der Geiſtesenergie bei ihm aufzuhelfen
glaubten. Sie hatten Dina gewöhnt, nichts zu
thun, wovon man ihr nicht den Grund geſagt;
nichts auf Treu und Glauben, nichts ohne Wider-
ſpruch anzunehmen. Aber wie ſehr mußten ſie
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/75>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.