Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite



Licht mit hinweg nahm. Dann durfte keine
Magd und niemand mehr ins Schlafzimmer.
Rief ich dann: Mutter, oder Vater, küss' mich
noch einmal! so kamen sie wieder und befriedigten
das kleine Herz. Hierbei aber blieb es, ich durfte
dann nicht mehr rufen, schlief auch meistens gleich
ein, und erwachte vor Morgens sieben Uhr nicht
wieder.

So ging es bis ins dritte, vielleicht vierte Jahr.
Da kam unter den Kindern, die mit meinem
ältern Bruder spielten, auch ein junger Vetter,
der eine besondere Freude hatte, mich zu necken.
Der erzählte mir, wenn wir im Halbdunkel spiel-
ten, allerlei schauerliche Dinge, und begleitete
seine Erzählung mit solchen Tönen und Bewegun-
gen, daß ich in eine entsetzliche Angst gerieth. Die
mochte dem jungen Menschen, der etwa zwölf bis
dreizehn Jahr alt war, komisch vorkommen, so
daß er es immer schauerlicher machte, bis er sah,
daß ich vor Angst nicht mehr zu bleiben wußte;
dann versucht' er mich wieder zu trösten: aber die
Furcht war mir nun eingeimpft, und ward meiner



Licht mit hinweg nahm. Dann durfte keine
Magd und niemand mehr ins Schlafzimmer.
Rief ich dann: Mutter, oder Vater, küſſ’ mich
noch einmal! ſo kamen ſie wieder und befriedigten
das kleine Herz. Hierbei aber blieb es, ich durfte
dann nicht mehr rufen, ſchlief auch meiſtens gleich
ein, und erwachte vor Morgens ſieben Uhr nicht
wieder.

So ging es bis ins dritte, vielleicht vierte Jahr.
Da kam unter den Kindern, die mit meinem
ältern Bruder ſpielten, auch ein junger Vetter,
der eine beſondere Freude hatte, mich zu necken.
Der erzählte mir, wenn wir im Halbdunkel ſpiel-
ten, allerlei ſchauerliche Dinge, und begleitete
ſeine Erzählung mit ſolchen Tönen und Bewegun-
gen, daß ich in eine entſetzliche Angſt gerieth. Die
mochte dem jungen Menſchen, der etwa zwölf bis
dreizehn Jahr alt war, komiſch vorkommen, ſo
daß er es immer ſchauerlicher machte, bis er ſah,
daß ich vor Angſt nicht mehr zu bleiben wußte;
dann verſucht’ er mich wieder zu tröſten: aber die
Furcht war mir nun eingeimpft, und ward meiner

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0057" n="43"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Licht mit hinweg nahm. Dann durfte keine<lb/>
Magd und niemand mehr ins Schlafzimmer.<lb/>
Rief ich dann: Mutter, oder Vater, kü&#x017F;&#x017F;&#x2019; mich<lb/>
noch einmal! &#x017F;o kamen &#x017F;ie wieder und befriedigten<lb/>
das kleine Herz. Hierbei aber blieb es, ich durfte<lb/>
dann nicht mehr rufen, &#x017F;chlief auch mei&#x017F;tens gleich<lb/>
ein, und erwachte vor Morgens &#x017F;ieben Uhr nicht<lb/>
wieder.</p><lb/>
          <p>So ging es bis ins dritte, vielleicht vierte Jahr.<lb/>
Da kam unter den Kindern, die mit meinem<lb/>
ältern Bruder &#x017F;pielten, auch ein junger Vetter,<lb/>
der eine be&#x017F;ondere Freude hatte, mich zu necken.<lb/>
Der erzählte mir, wenn wir im Halbdunkel &#x017F;piel-<lb/>
ten, allerlei &#x017F;chauerliche Dinge, und begleitete<lb/>
&#x017F;eine Erzählung mit &#x017F;olchen Tönen und Bewegun-<lb/>
gen, daß ich in eine ent&#x017F;etzliche Ang&#x017F;t gerieth. Die<lb/>
mochte dem jungen Men&#x017F;chen, der etwa zwölf bis<lb/>
dreizehn Jahr alt war, komi&#x017F;ch vorkommen, &#x017F;o<lb/>
daß er es immer &#x017F;chauerlicher machte, bis er &#x017F;ah,<lb/>
daß ich vor Ang&#x017F;t nicht mehr zu bleiben wußte;<lb/>
dann ver&#x017F;ucht&#x2019; er mich wieder zu trö&#x017F;ten: aber die<lb/>
Furcht war mir nun eingeimpft, und ward meiner<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[43/0057] Licht mit hinweg nahm. Dann durfte keine Magd und niemand mehr ins Schlafzimmer. Rief ich dann: Mutter, oder Vater, küſſ’ mich noch einmal! ſo kamen ſie wieder und befriedigten das kleine Herz. Hierbei aber blieb es, ich durfte dann nicht mehr rufen, ſchlief auch meiſtens gleich ein, und erwachte vor Morgens ſieben Uhr nicht wieder. So ging es bis ins dritte, vielleicht vierte Jahr. Da kam unter den Kindern, die mit meinem ältern Bruder ſpielten, auch ein junger Vetter, der eine beſondere Freude hatte, mich zu necken. Der erzählte mir, wenn wir im Halbdunkel ſpiel- ten, allerlei ſchauerliche Dinge, und begleitete ſeine Erzählung mit ſolchen Tönen und Bewegun- gen, daß ich in eine entſetzliche Angſt gerieth. Die mochte dem jungen Menſchen, der etwa zwölf bis dreizehn Jahr alt war, komiſch vorkommen, ſo daß er es immer ſchauerlicher machte, bis er ſah, daß ich vor Angſt nicht mehr zu bleiben wußte; dann verſucht’ er mich wieder zu tröſten: aber die Furcht war mir nun eingeimpft, und ward meiner

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/57
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/57>, abgerufen am 03.10.2024.