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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

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auf den Stoff wenig ankommt, ist für die höhere
Bildung: nur sie kann ihren Werth fühlen. Dar-
um muß Schiller's Wilhelm Tell ein unglaublich
größeres Publikum finden, von dem er begriffen
werden kann, als die Jungfrau von Orleans.
Denn Tell's Charakter begreift jedes gesunde
Menschenherz; aber eine Erscheinung wie die
Jungfrau, die nur als Kunstprodukt, und nir-
gends in der Wirklichkeit existirt, kann nur vom
Künstler oder von einem poetischen Gemüth ganz
begriffen werden. Es ist wohl gut, daß unsere
Dichter so fürs Volk gesorgt haben, als sie gethan;
aber für die Kinder und die kindlichen Menschen ist
noch sehr wenig da. Doch, die könnens auch am
ersten entbehren. Was ich nun die Kinder zunächst
sehen lasse, wird wohl der Edelknabe seyn. Der
Kinder Hang zu dieser Art Vergnügungen ist un-
glaublich groß. Jch werde sie in diesem Punkte
nicht befriedigen können.

Lebe wohl, meine Emma!



auf den Stoff wenig ankommt, iſt für die höhere
Bildung: nur ſie kann ihren Werth fühlen. Dar-
um muß Schiller’s Wilhelm Tell ein unglaublich
größeres Publikum finden, von dem er begriffen
werden kann, als die Jungfrau von Orleans.
Denn Tell’s Charakter begreift jedes geſunde
Menſchenherz; aber eine Erſcheinung wie die
Jungfrau, die nur als Kunſtprodukt, und nir-
gends in der Wirklichkeit exiſtirt, kann nur vom
Künſtler oder von einem poetiſchen Gemüth ganz
begriffen werden. Es iſt wohl gut, daß unſere
Dichter ſo fürs Volk geſorgt haben, als ſie gethan;
aber für die Kinder und die kindlichen Menſchen iſt
noch ſehr wenig da. Doch, die könnens auch am
erſten entbehren. Was ich nun die Kinder zunächſt
ſehen laſſe, wird wohl der Edelknabe ſeyn. Der
Kinder Hang zu dieſer Art Vergnügungen iſt un-
glaublich groß. Jch werde ſie in dieſem Punkte
nicht befriedigen können.

Lebe wohl, meine Emma!



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[266/0280] auf den Stoff wenig ankommt, iſt für die höhere Bildung: nur ſie kann ihren Werth fühlen. Dar- um muß Schiller’s Wilhelm Tell ein unglaublich größeres Publikum finden, von dem er begriffen werden kann, als die Jungfrau von Orleans. Denn Tell’s Charakter begreift jedes geſunde Menſchenherz; aber eine Erſcheinung wie die Jungfrau, die nur als Kunſtprodukt, und nir- gends in der Wirklichkeit exiſtirt, kann nur vom Künſtler oder von einem poetiſchen Gemüth ganz begriffen werden. Es iſt wohl gut, daß unſere Dichter ſo fürs Volk geſorgt haben, als ſie gethan; aber für die Kinder und die kindlichen Menſchen iſt noch ſehr wenig da. Doch, die könnens auch am erſten entbehren. Was ich nun die Kinder zunächſt ſehen laſſe, wird wohl der Edelknabe ſeyn. Der Kinder Hang zu dieſer Art Vergnügungen iſt un- glaublich groß. Jch werde ſie in dieſem Punkte nicht befriedigen können. Lebe wohl, meine Emma!

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/280>, abgerufen am 23.11.2024.