auf den Stoff wenig ankommt, ist für die höhere Bildung: nur sie kann ihren Werth fühlen. Dar- um muß Schiller's Wilhelm Tell ein unglaublich größeres Publikum finden, von dem er begriffen werden kann, als die Jungfrau von Orleans. Denn Tell's Charakter begreift jedes gesunde Menschenherz; aber eine Erscheinung wie die Jungfrau, die nur als Kunstprodukt, und nir- gends in der Wirklichkeit existirt, kann nur vom Künstler oder von einem poetischen Gemüth ganz begriffen werden. Es ist wohl gut, daß unsere Dichter so fürs Volk gesorgt haben, als sie gethan; aber für die Kinder und die kindlichen Menschen ist noch sehr wenig da. Doch, die könnens auch am ersten entbehren. Was ich nun die Kinder zunächst sehen lasse, wird wohl der Edelknabe seyn. Der Kinder Hang zu dieser Art Vergnügungen ist un- glaublich groß. Jch werde sie in diesem Punkte nicht befriedigen können.
Lebe wohl, meine Emma!
auf den Stoff wenig ankommt, iſt für die höhere Bildung: nur ſie kann ihren Werth fühlen. Dar- um muß Schiller’s Wilhelm Tell ein unglaublich größeres Publikum finden, von dem er begriffen werden kann, als die Jungfrau von Orleans. Denn Tell’s Charakter begreift jedes geſunde Menſchenherz; aber eine Erſcheinung wie die Jungfrau, die nur als Kunſtprodukt, und nir- gends in der Wirklichkeit exiſtirt, kann nur vom Künſtler oder von einem poetiſchen Gemüth ganz begriffen werden. Es iſt wohl gut, daß unſere Dichter ſo fürs Volk geſorgt haben, als ſie gethan; aber für die Kinder und die kindlichen Menſchen iſt noch ſehr wenig da. Doch, die könnens auch am erſten entbehren. Was ich nun die Kinder zunächſt ſehen laſſe, wird wohl der Edelknabe ſeyn. Der Kinder Hang zu dieſer Art Vergnügungen iſt un- glaublich groß. Jch werde ſie in dieſem Punkte nicht befriedigen können.
Lebe wohl, meine Emma!
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0280"n="266"/>
auf den Stoff wenig ankommt, iſt für die höhere<lb/>
Bildung: nur ſie kann ihren Werth fühlen. Dar-<lb/>
um muß Schiller’s Wilhelm Tell ein unglaublich<lb/>
größeres Publikum finden, von dem er begriffen<lb/>
werden kann, als die Jungfrau von Orleans.<lb/>
Denn Tell’s Charakter begreift jedes geſunde<lb/>
Menſchenherz; aber eine Erſcheinung wie die<lb/>
Jungfrau, die nur als Kunſtprodukt, und nir-<lb/>
gends in der Wirklichkeit exiſtirt, kann nur vom<lb/>
Künſtler oder von einem poetiſchen Gemüth ganz<lb/>
begriffen werden. Es iſt wohl gut, daß unſere<lb/>
Dichter ſo fürs Volk geſorgt haben, als ſie gethan;<lb/>
aber für die Kinder und die kindlichen Menſchen iſt<lb/>
noch ſehr wenig da. Doch, die könnens auch am<lb/>
erſten entbehren. Was ich nun die Kinder zunächſt<lb/>ſehen laſſe, wird wohl der Edelknabe ſeyn. Der<lb/>
Kinder Hang zu dieſer Art Vergnügungen iſt un-<lb/>
glaublich groß. Jch werde ſie <hirendition="#g">in dieſem</hi> Punkte<lb/>
nicht befriedigen können.</p><lb/><p>Lebe wohl, meine Emma!</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/></div></body></text></TEI>
[266/0280]
auf den Stoff wenig ankommt, iſt für die höhere
Bildung: nur ſie kann ihren Werth fühlen. Dar-
um muß Schiller’s Wilhelm Tell ein unglaublich
größeres Publikum finden, von dem er begriffen
werden kann, als die Jungfrau von Orleans.
Denn Tell’s Charakter begreift jedes geſunde
Menſchenherz; aber eine Erſcheinung wie die
Jungfrau, die nur als Kunſtprodukt, und nir-
gends in der Wirklichkeit exiſtirt, kann nur vom
Künſtler oder von einem poetiſchen Gemüth ganz
begriffen werden. Es iſt wohl gut, daß unſere
Dichter ſo fürs Volk geſorgt haben, als ſie gethan;
aber für die Kinder und die kindlichen Menſchen iſt
noch ſehr wenig da. Doch, die könnens auch am
erſten entbehren. Was ich nun die Kinder zunächſt
ſehen laſſe, wird wohl der Edelknabe ſeyn. Der
Kinder Hang zu dieſer Art Vergnügungen iſt un-
glaublich groß. Jch werde ſie in dieſem Punkte
nicht befriedigen können.
Lebe wohl, meine Emma!
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/280>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.