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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

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"Armes Herz! du dauerst mich sehr. Willst
du mir denn aber bisweilen sagen, was du denkst,
und was dich traurig macht?"

Aber wenn ich nun Böses denke, dann mußt
du mir ja böse seyn. Jch habe wohl zugehört,
wie du neulich zu Jda sagtest: die guten Men-
schen müßten das Böse und das Schlechte hassen,
und könnten nicht anders. Und der liebe Gott
mache es auch so. Wenn ich dir nun alles sage,
was ich denke, so mußt du mich ja hassen, und
ich wollte doch, daß du mich lieb haben solltest. --
"Höre, Kind, die Sache ist so: Wer das Schlech-
"te in sich nicht lieb hat, der ist nicht ganz schlecht,
"und wenn einer das Schlechte in sich verabscheuet,
"so kann er sehr gut werden. Du bist noch nicht
"böse, aber du könntest es werden, wenn du dir
"selbst so gefielest, wie du da bist. Dein Herz ist
"krank: es kann gesund werden, wenn du gegen
"den Arzt recht aufrichtig bist, und ihm alles sagst,
"was ihm fehlt. Jch will dein Arzt seyn, wenn
"du dich mir anvertrauen willst." Ja, Tante
Selma, ich will es; aber ich kann nicht, wenn

(22)

„Armes Herz! du dauerſt mich ſehr. Willſt
du mir denn aber bisweilen ſagen, was du denkſt,
und was dich traurig macht?‟

Aber wenn ich nun Böſes denke, dann mußt
du mir ja böſe ſeyn. Jch habe wohl zugehört,
wie du neulich zu Jda ſagteſt: die guten Men-
ſchen müßten das Böſe und das Schlechte haſſen,
und könnten nicht anders. Und der liebe Gott
mache es auch ſo. Wenn ich dir nun alles ſage,
was ich denke, ſo mußt du mich ja haſſen, und
ich wollte doch, daß du mich lieb haben ſollteſt. —
„Höre, Kind, die Sache iſt ſo: Wer das Schlech-
„te in ſich nicht lieb hat, der iſt nicht ganz ſchlecht,
„und wenn einer das Schlechte in ſich verabſcheuet,
„ſo kann er ſehr gut werden. Du biſt noch nicht
„böſe, aber du könnteſt es werden, wenn du dir
„ſelbſt ſo gefieleſt, wie du da biſt. Dein Herz iſt
„krank: es kann geſund werden, wenn du gegen
„den Arzt recht aufrichtig biſt, und ihm alles ſagſt,
„was ihm fehlt. Jch will dein Arzt ſeyn, wenn
„du dich mir anvertrauen willſt.‟ Ja, Tante
Selma, ich will es; aber ich kann nicht, wenn

(22)
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[169/0183] „Armes Herz! du dauerſt mich ſehr. Willſt du mir denn aber bisweilen ſagen, was du denkſt, und was dich traurig macht?‟ Aber wenn ich nun Böſes denke, dann mußt du mir ja böſe ſeyn. Jch habe wohl zugehört, wie du neulich zu Jda ſagteſt: die guten Men- ſchen müßten das Böſe und das Schlechte haſſen, und könnten nicht anders. Und der liebe Gott mache es auch ſo. Wenn ich dir nun alles ſage, was ich denke, ſo mußt du mich ja haſſen, und ich wollte doch, daß du mich lieb haben ſollteſt. — „Höre, Kind, die Sache iſt ſo: Wer das Schlech- „te in ſich nicht lieb hat, der iſt nicht ganz ſchlecht, „und wenn einer das Schlechte in ſich verabſcheuet, „ſo kann er ſehr gut werden. Du biſt noch nicht „böſe, aber du könnteſt es werden, wenn du dir „ſelbſt ſo gefieleſt, wie du da biſt. Dein Herz iſt „krank: es kann geſund werden, wenn du gegen „den Arzt recht aufrichtig biſt, und ihm alles ſagſt, „was ihm fehlt. Jch will dein Arzt ſeyn, wenn „du dich mir anvertrauen willſt.‟ Ja, Tante Selma, ich will es; aber ich kann nicht, wenn (22)

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/183>, abgerufen am 24.11.2024.