Seele genoß er, ungleich jenen kalten Kritikern, die im Vaterlande nichts mehr schön finden kön- nen, wenn sie einmal rühmen dürfen, daß sie im Auslande waren.
Auf Reisen tritt das Jnnere der Menschen über- haupt unverhüllter hervor: da hab' auch ich sein eigenthümliches Wesen näher kennen gelernt. Eine solche Mischung von Kraft und Milde, von Festig- keit und kindlicher Hingabe, von Stolz und De- muth, sah' ich noch nicht. Unerbittlich hart ist er gegen Unwahrheit und feile Kriecherei. Nicht ein- mal galant ist er gegen Weiber. Er scheint im Ganzen für unser Geschlecht mehr Mitleid als Achtung zu haben, und doch ist es ihm wieder Be- dürfniß, die Bessern unter uns heraus zu heben, und sie mit Ehrerbietung zu behandeln. Seine Gestalt ist männlich. Sein dunkles, feuriges Auge würde zurückscheuchen, wenn nicht so viel heitere Ruhe daraus spräche. Jch wollte Dir von seinen Schwächen sagen, und habe sie unvermerkt fast ganz aus den Augen verloren. Er haßt, zum Bei- spiel, alle konventionellen Formen des Umgangs
Seele genoß er, ungleich jenen kalten Kritikern, die im Vaterlande nichts mehr ſchön finden kön- nen, wenn ſie einmal rühmen dürfen, daß ſie im Auslande waren.
Auf Reiſen tritt das Jnnere der Menſchen über- haupt unverhüllter hervor: da hab’ auch ich ſein eigenthümliches Weſen näher kennen gelernt. Eine ſolche Miſchung von Kraft und Milde, von Feſtig- keit und kindlicher Hingabe, von Stolz und De- muth, ſah’ ich noch nicht. Unerbittlich hart iſt er gegen Unwahrheit und feile Kriecherei. Nicht ein- mal galant iſt er gegen Weiber. Er ſcheint im Ganzen für unſer Geſchlecht mehr Mitleid als Achtung zu haben, und doch iſt es ihm wieder Be- dürfniß, die Beſſern unter uns heraus zu heben, und ſie mit Ehrerbietung zu behandeln. Seine Geſtalt iſt männlich. Sein dunkles, feuriges Auge würde zurückſcheuchen, wenn nicht ſo viel heitere Ruhe daraus ſpräche. Jch wollte Dir von ſeinen Schwächen ſagen, und habe ſie unvermerkt faſt ganz aus den Augen verloren. Er haßt, zum Bei- ſpiel, alle konventionellen Formen des Umgangs
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Seele genoß er, ungleich jenen kalten Kritikern,
die im Vaterlande nichts mehr ſchön finden kön-
nen, wenn ſie einmal rühmen dürfen, daß ſie im
Auslande waren.
Auf Reiſen tritt das Jnnere der Menſchen über-
haupt unverhüllter hervor: da hab’ auch ich ſein
eigenthümliches Weſen näher kennen gelernt. Eine
ſolche Miſchung von Kraft und Milde, von Feſtig-
keit und kindlicher Hingabe, von Stolz und De-
muth, ſah’ ich noch nicht. Unerbittlich hart iſt er
gegen Unwahrheit und feile Kriecherei. Nicht ein-
mal galant iſt er gegen Weiber. Er ſcheint im
Ganzen für unſer Geſchlecht mehr Mitleid als
Achtung zu haben, und doch iſt es ihm wieder Be-
dürfniß, die Beſſern unter uns heraus zu heben,
und ſie mit Ehrerbietung zu behandeln. Seine
Geſtalt iſt männlich. Sein dunkles, feuriges Auge
würde zurückſcheuchen, wenn nicht ſo viel heitere
Ruhe daraus ſpräche. Jch wollte Dir von ſeinen
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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/126>, abgerufen am 25.11.2024.
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