functionellen Reizen getroffen und fungirten somit mehr oder weniger.
Die Bewegungen des Embryo im Mutterleibe sind allen bekannt; aber dass solche embryonalen Bewegungen schon in den allerfrühesten Stadien und in andauerndster Weise vor- kommen, verdanken wir erst den neuesten Untersuchungen von Preyer1), den Resultaten seiner an Hühnereiern angestellten Embryoscopie. Er sah, dass der Hühnchenembryo schon vom dritten Brüttage an den Rumpf und die Extremitäten lebhaft rhythmisch bewegte.
Daher stehen schon vom Anfang ihrer Bildung an die be- treffenden Muskeln mit ihren Sehnen, Aponeurosen und Fascien, sowie die Skelettheile mit ihren Gelenkenden, mit Kapseln und Bändern unter dem gestaltenden Einflusse dieser Function und wir sind aus diesem Grunde nicht berechtigt, die betreffenden angeborenen Bildungen rein als vererbte anzusehen. Wir sind nicht im Stande, zu beurtheilen, wie viel vererbt, wie viel durch functionelle Anpassung erworben ist, weil wir die embryonale functionelle Anpassungsgrösse und -Geschwindigkeit nicht kennen und weil wir noch nicht die primär vererbten von den secundären Bildungen zu unterscheiden vermögen. Aus dem Nachstehenden wird sich ergeben, dass nur relativ wenige primäre Charaktere vererbt zu werden brauchen, vorzugsweise vielleicht diejenigen, die auch ursprünglich durch embryonale Variation entstanden waren und dann mit Hilfe der dadurch bestimmten Richtung der functionellen Anpassung die specifischen Einzelformen hervor- gebracht haben.
Noch weniger als für die Muskeln, Skelettheile, Bänder und Fascien kann die innere Structur und die äussere Form der angeborenen Blutgefässe als vererbt aufgefasst werden; denn die Blutgefässe fungiren fortwährend im Embryo von ihrer ersten
1) Preyer, Jenaer med. naturw. Zeitschr. 1880.
I. Die functionelle Anpassung.
functionellen Reizen getroffen und fungirten somit mehr oder weniger.
Die Bewegungen des Embryo im Mutterleibe sind allen bekannt; aber dass solche embryonalen Bewegungen schon in den allerfrühesten Stadien und in andauerndster Weise vor- kommen, verdanken wir erst den neuesten Untersuchungen von Preyer1), den Resultaten seiner an Hühnereiern angestellten Embryoscopie. Er sah, dass der Hühnchenembryo schon vom dritten Brüttage an den Rumpf und die Extremitäten lebhaft rhythmisch bewegte.
Daher stehen schon vom Anfang ihrer Bildung an die be- treffenden Muskeln mit ihren Sehnen, Aponeurosen und Fascien, sowie die Skelettheile mit ihren Gelenkenden, mit Kapseln und Bändern unter dem gestaltenden Einflusse dieser Function und wir sind aus diesem Grunde nicht berechtigt, die betreffenden angeborenen Bildungen rein als vererbte anzusehen. Wir sind nicht im Stande, zu beurtheilen, wie viel vererbt, wie viel durch functionelle Anpassung erworben ist, weil wir die embryonale functionelle Anpassungsgrösse und -Geschwindigkeit nicht kennen und weil wir noch nicht die primär vererbten von den secundären Bildungen zu unterscheiden vermögen. Aus dem Nachstehenden wird sich ergeben, dass nur relativ wenige primäre Charaktere vererbt zu werden brauchen, vorzugsweise vielleicht diejenigen, die auch ursprünglich durch embryonale Variation entstanden waren und dann mit Hilfe der dadurch bestimmten Richtung der functionellen Anpassung die specifischen Einzelformen hervor- gebracht haben.
Noch weniger als für die Muskeln, Skelettheile, Bänder und Fascien kann die innere Structur und die äussere Form der angeborenen Blutgefässe als vererbt aufgefasst werden; denn die Blutgefässe fungiren fortwährend im Embryo von ihrer ersten
1) Preyer, Jenaer med. naturw. Zeitschr. 1880.
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I. Die functionelle Anpassung.
functionellen Reizen getroffen und fungirten somit mehr oder
weniger.
Die Bewegungen des Embryo im Mutterleibe sind allen
bekannt; aber dass solche embryonalen Bewegungen schon in
den allerfrühesten Stadien und in andauerndster Weise vor-
kommen, verdanken wir erst den neuesten Untersuchungen von
Preyer 1), den Resultaten seiner an Hühnereiern angestellten
Embryoscopie. Er sah, dass der Hühnchenembryo schon vom
dritten Brüttage an den Rumpf und die Extremitäten lebhaft
rhythmisch bewegte.
Daher stehen schon vom Anfang ihrer Bildung an die be-
treffenden Muskeln mit ihren Sehnen, Aponeurosen und Fascien,
sowie die Skelettheile mit ihren Gelenkenden, mit Kapseln und
Bändern unter dem gestaltenden Einflusse dieser Function und
wir sind aus diesem Grunde nicht berechtigt, die betreffenden
angeborenen Bildungen rein als vererbte anzusehen. Wir sind
nicht im Stande, zu beurtheilen, wie viel vererbt, wie viel durch
functionelle Anpassung erworben ist, weil wir die embryonale
functionelle Anpassungsgrösse und -Geschwindigkeit nicht kennen
und weil wir noch nicht die primär vererbten von den secundären
Bildungen zu unterscheiden vermögen. Aus dem Nachstehenden
wird sich ergeben, dass nur relativ wenige primäre Charaktere
vererbt zu werden brauchen, vorzugsweise vielleicht diejenigen,
die auch ursprünglich durch embryonale Variation entstanden
waren und dann mit Hilfe der dadurch bestimmten Richtung der
functionellen Anpassung die specifischen Einzelformen hervor-
gebracht haben.
Noch weniger als für die Muskeln, Skelettheile, Bänder
und Fascien kann die innere Structur und die äussere Form der
angeborenen Blutgefässe als vererbt aufgefasst werden; denn
die Blutgefässe fungiren fortwährend im Embryo von ihrer ersten
1) Preyer, Jenaer med. naturw. Zeitschr. 1880.
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Roux, Wilhelm: Der Kampf der Teile des Organismus. Leipzig, 1881, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roux_kampf_1881/62>, abgerufen am 22.07.2024.
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